Kim de l'Horizon gewinnt Buchpreis 2022: Endlich ein Erdbeben

Meinung Natürlich wollte die Buchpreis-Jury eine Störung des Betriebs. Den diesjährigen Preis erhielt der*die 30-jährige Schweizer non-binäre Kim de l'Horizon für sein Romandebüt „Blutbuch“
Ausgabe 42/2022
Kim de l’Horizon erhält den Deutschen Buchpreis 2022
Kim de l’Horizon erhält den Deutschen Buchpreis 2022

Foto: Arne Dedert/picture alliance/dpa

In Literaturjurys läuft es doch so, dass die Kandidaten der Endrunde alle den Preis bekommen können, oder? Also hätte die Vorsteherin des Börsenvereins auch Dröscher, Bilkau, Aydemir, Faktor oder Nickel als neue Preisträger*in ausrufen können. Hat sie aber nicht. Den Preis erhielt der*die 30-jährige Schweizer non-binäre Kim de l’Horizon für das Debüt Blutbuch.

Durch die Literaturszene ging ein Erdbeben. Natürlich wollte die Jury eine Störung des Betriebs. Es wäre ungewöhnlich, wenn in der Endrunde noch literarische Gründe entschieden. Jetzt sind die literaturpolitischen dran. Sie versuchen, den Buchhandel, den Geschmack der Mittelklasse, Ost und West, innovativ und traditionell abzuwägen. Oder sie bedenken identitätspolitische Gesichtspunkte. Wo hatten wir schon einmal die Chance, einen Roman eines/einer non-binären Autor*in nach ganz oben zu stellen? Noch nie.

Also machte die Jury es. Offensichtlich uneinheitlich, aber mehrheitlich. Vielleicht sagten die Juroren sich: Was kümmern uns die Eliten, die solche Themen freundlich geschehen lassen, aber sich abwenden? Die „progressive“ Mittelklasse toleriert aus Klugheit Minderheiten, aber lässt sich von ihnen nicht reinreden. Hätte die Preisentscheidung also um Kim de l’Horizon einen Bogen gemacht, wäre alles geblieben wie immer.

Eine neue Spielart von „Midcult“, wo das Thema die Form schluckt und zu einem moralisierenden Brei verrührt, kann nicht im Spiel sein. Blutbuch ist mitnichten Wohlfühllektüre. Leser sollten nicht prüde und überempfindlich sein. In einem falschen Körper leben zu müssen ist nicht lustig. Der Roman über eine Blutbuche wird zum „Blutbuch“. In beeindruckender Sprachmächtigkeit entladen sich selbstzerstörerische Energien.

Schon dass der Roman Blutbuch einen Platz auf der Shortlist erhalten hatte, rückte das von den Mehrheiten der Mittelklasse am Rand gehaltene Thema sexueller Identität in die Mitte. Schon das war ein Verdienst. Noch eine Stunde vor der Preisverleihung glaubte ich, dass die Radikalität des Erzählens am Ende nicht mehrheitsfähig sein wird. Es kam anders. Durch ein Bekenntnis einer Jury zu identitätspolitischer Literatur. Aber zuerst zur Literatur. Wenn das Erdbeben Türme wohltemperierter Bücher zum Einsturz gebracht haben sollte, dann war es nötig.

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