Der aufständische Subcomandante Marcos, von dem mittlerweile die ganze Welt spricht und dessen Untergeordnete "Comandantes" heißen, hat sich jahrelang nicht nur im mexikanischen Südosten verschanzt, sondern sich auch mit fabelhaften Masken verschleiert. Als wäre er Walt Disney in postkommunistischer Latino-Gestalt, ließ er aus dem Lakandonischen Urwald unentwegt die Tierwelt sprechen. Aber ein Spaßvogel ist er keineswegs. Seine Argumente gegen die "globalisierte" Welt ökonomischer Gewalt, Unterdrückung und Demütigung, sind beredt genug, um nur Spaßguerillero zu sein. Er hat im Mexiko und über dessen Grenzen hinaus kategoriale Selbstverständnisse umgestülpt und Hierarchien umgekehrt.
Während er die Neoliberalen des barbari
es barbarischen Auslöschungsversuchs von Geschichte bezichtigt, ärgert er sich über die apokalyptische Katerstimmung der europäischen Linken, die einer bedauerlichen Phantasielosigkeit verfallen sei. Marcos trat in Erscheinung, wo man ihn nicht vermutete und entwickelte eine Poetik, die Sprengstoff für ein neues Politikverständnis liefert. Und er konstruierte seine aufrührerischen Bekundungen mit "postmodern" anmutenden Wechselstrategien. Don Quijote und König Lear. Ein philosophierender Käfer, "Don Durito", war Sprachrohr der Komödie, Tragödie und Farce des Zerrspiegels der Menschheit, des Kapitalismus.Marcos schöpfte seine politische Philosophie aus einer autochthonen Kultur, die Hoffnung für Millionen mexikanischer Indios verheißt. Auch für die Indios in den urbanen Metropolen, für die kapitalistische Reservearmee, für die Scharen unbefristeter Arbeitslosen, die ihr Leben gegen Spiegelchen und Rausch tauschen. Die mexikanischen Indios standen auch als Symbol für die Verlierer im weltumspannenden Kapitalismus. Die Verdammten dieser Erde seien überall.Nun sind die Zapatisten seit dem 25. Februar für zwei Wochen unter der Führung des Subcomandante auf einem 3000 Kilometer langen Weg nach der mexikanischen Hauptstadt. Keiner weiß genau, ob das ihr verhängnisvolles Ende bedeutet, wie Marcos´ künftiger Personalausweis aussehen soll, was sich hinter seiner Maske versteckt, oder ob seiner Maske seine erste oder zweite Natur zugrunde liegt. Die Maske machte ihn, folgt man dem altgriechischen Bild, zur Persona, derweil grata für die Unterdrückten und non grata in den Metropolen, desgleichen zu kopula, zum Attribut, zur personifizierten Bühne der Masken selbst, wo die Menschen ihre unverwechselbare Gestalt zum Ausdruck bringen können. Die Verschleierung des Gesichts ist Selbstbehauptung, Kampfmittel und Allegorie, Ausdruck der Verkehrung der Verhältnisse, die selbst verkehrt sind. Marcos ist Metaphoriker und Metapher zugleich.Der Subcomandante war ein Erneuerer, der die institutionelle Logik des mexikanischen Staatsapparates bis zur Zerreißprobe ausmanövrierte. Sein Gang im Dschungel und durch die dicht umschlungenen Pfade des mexikanischen Urwaldes schillerte zwischen impressionistischen Erlebensformen sowie expressionistischen Ausdrucksbewegungen, unterstellte eine Freiheit im Repertoire des politischen Kampfes, die sich allen bürgerlichen Konventionen, auch dem Selbstverständnis der rebellischen Kämpfe in Fidel Castros einstigem Kuba oder Ernesto Ché Guevaras stoizistischem Waffenheroismus in Bolivien, entzog. Wie ein auf entblößte Realität Setzender und auf sie nicht nur virtuell zurückgekehrter Postmoderner, lieferte er der erstaunten Welt ein barockes Spektrum von Poesie, marxistischer Philosophie, Poststrukturalismus, Alltagsphänomenologie und magischem Realismus, das er je nach Lage beliebig kombinierte.Der revolutionäre Leader aus Chiapas will der korrupten mexikanischen Gesellschaft historische Persönlichkeit und Autonomie zurückverleihen, indem er gleichwohl die Masken der dort Mächtigen herunterreißt.Marcos ist ein Philosoph der Tat. Theorie und Praxis sind ihm unauflösbar verbunden. Der Herr der Spiegel reiht sich ein in die Geschichte von linken Emanzipationsbewegungen, die begrifflich und metaphorisch eine lange Traditionslinie aufweist.Ebenso wenig wie der ökonomische Reproduktionskreislauf unterbrochen werden kann, ist die Reproduktion der geistigen und sprachlichen Repertoires der Menschen abzubrechen. Werden Denken und Handeln zu einer unüberwindlichen Kluft auseinandergerissen, so werden gegenständliche und geistige Reproduktionsweisen versprengt. Das entspricht der Logik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, der die Teilung von reiner und praktischer Vernunft sowie die Spaltung von Natur und Geschichte innewohnt.Über Thomas Morus, Rousseau - die Liste ist lang - bis zu Proudhon, Marx und Engels standen diese Veränderungen im Blick ihrer revolutionären Überlegungen. Die Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts schlossen sich dieser Marxismus und Anarchismus verbindenden Tradition an, die um das Ende des zweiten Jahrtausends nunmehr in Mexiko einen neuen Impuls gefunden hat. Aber Europa war unbestrittenes Vorbild. Der Marxismus, an den Marcos in der Rezeption von Sartre und Althusser knüpft, welche wiederum einer merkwürdigen Reinterpretation von Heidegger und Max Weber folgte, war ein eminent europäisches, vor allem ein deutsches und russisches Produkt. Und während die lateinamerikanischen Intellektuellen punktuell den europäischen Diskurs aufnahmen, blieben ihre Gesellschaften Safarilandschaften, Naturparks für Markt- und Machtinteressen.Während in Europa die kommunistische Bewegung in die Hände Stalins geriet, rüstete das Kapital zu einer Offensive gegen die peripheren Länder der Welt auf. Der Imperialismus war Realität genug, um sie dem Zwitterfeind des Sowjetkommunismus als dessen Erfindung zu unterstellen. Das Gesicht der Welt war bipolar und den grotesken Machtspielen von Geheimdiensten untergeordnet, als das Ende des Staatssozialismus kam. Die Zerrbilder imperialer Rationalität und parteidiktatorischen Kommunismus bestimmten die Tragödie der Linke in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.In Europa war die Erfahrung mit dem Staatssozialismus eine doppelt gebrochene: weil der Sozialismus im Osten politisch durch Auflehnung und Anpassung zusammengebrochen war und weil das Scheitern des Sozialismus auf "nur" eigene Traditionen verwies, aus der sich jedoch die weltumspannende sozialistische Bewegung gespeist hatte: "Jede revolutionäre Bewegung", so Marcos, "verbindet sich zunächst mit dem jüdisch-christlichen Diskurs, er ist der revolutionäre, der prophetische. Doch dann, wenn die Bewegung gesiegt hat, geht sie über in den römisch-staatlichen Diskurs. Das einzige Modell von Staat in Europa ist nach wie vor Rom."Diejenigen, die außerhalb Europas das alternative, antikapitalistische Projekt nicht aufzugeben bereit waren, zeigten zunächst ihre nur zaghafte Auflehnung, die jedoch immer eloquenter, klarer und konkreter wurde. Das Eis war gebrochen. Eine neue Metaphorik bahnte sich den Weg, der dem ökonomischen und politischen Diskurs des Establishment die Stirn zu bieten vermochte. Rom ist nicht überall, obgleich Mexiko-Stadt für Rom steht. Es gilt, Rom zu erobern, wie einst die Barbaren, die die Welt veränderten.Das Territorium, von wo aus die Auflehnung einsetzt, ist eine Metapher, ein Stachel, der auf das Herz der kapitalistischen Entzauberung zielt. Marcos hat es so formuliert:"Berge im mexikanischen Südosten. Der Mond hat sich wie oft über den Hügel fallen lassen. Ein Geklirre gebrochener Scherben wird von einem Murmeln gefolgt. Es scheint ein Bach, Regen zu sein. Es sind Schritte. Tausende davon. Eine Schattenarmee müht sich ab, die Stücke des gebrochenen Spiegels aufzusammeln. Vorsichtig ordnen sie die Stücke des Puzzles, welches Abbild dieser fragmentarischen Realität zu sein trachten wird, die wiederum - wer zweifelt daran? - nicht aufhört sich zu bewegen.Mit freudiger Unruhe fällt ihnen auf, dass einige Stücke fehlen. Obgleich die aufgesammelten Stücke kaum ermöglicht haben, einen unvollständigen und schlecht zusammengeklebten Spiegel zusammenzubauen, gelingt es in seinem Abbild, wenn auch nicht deutlich, Gestalten zu sehen, die nicht nur formlose Flecken sind. Langsam heben sie den zusammengeflickten Spiegel auf und zielen ihn westwärts, gerade in die Richtung, in die dieser andere Spiegel, der dort oben jeden Morgen leuchtet, den Schritt Tag für Tag zwingt.Ohne aufzuhören uns zu sehen, aber vor allem das Andere und die Anderen sehend, ergreifen wir, schreibende Krieger, das Wort, diese, die wir sind.Dort oben schießen alle auf die Uhren."Am 1. Januar 1994 erfuhr die Welt von der Existenz der mexikanischen Guerillagruppe "Zapatistische Nationale Befreiungsarmee" (EZLN). Subcomandante Marcos verliest ein Tag später aus Chiapas die Erste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald in der Kathedrale von San Cristóbal. Die Forderungen der Zapatisten wurden mit "Es reicht! zusammen gefasst. "Arbeit, Land, Wohnung, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Frieden, Information und Kultur" bildeten den ersten Forderungskatalog, der die von der "Partei der Institutionellen Revolution" (PRI) geführte Zentralregierung in Mexiko-Stadt tief erschüttert.Marcos bildet seinen Generalstab in "La Realidad", einem real bestehenden, märchenhaften Dorf im Herzen des südmexikanischen Urwalds. Hier aus beginnt ein Kampf, der an Originalität und Friedfertigkeit in der Geschichte der Guerillakämpfe der Welt seines gleichen sucht. Die Zapatisten können sich keinen einzigen terroristischen Angriff vorwerfen lassen, aber sie rufen eine Armee auf den Plan, die das Ziel verfolgt, in Mexikos Zivilgesellschaft einzugreifen, um die Mächtigen zu stürzen. Und der Anspruch der Bewegung wird noch globaler: "Chiapas ist das Aleph, der Punkt, an dem die Lichter und die Schatten der heutigen Welt zusammentreffen". Jorge Luis Borges wird post morten zum Revolutionär. Und "Chiapas ist der Stolperstein der wilden Globalisierung, die Achillesferse der liberalen Wirtschaftsumstellung´."Am 2. Juli 2000 wurde die PRI nach 70jähriger Regierungsmacht von der christlich konservativen Partei PAN (Partei der Nationalen Aktion) von Vicente Fox abgelöst. Die Zapatisten hatten einen maßgeblichen Anteil an der demokratischen Abwahl der korrupten Regierung. Das politische Feld wurde jedoch konservativ besetzt. Seitdem änderte sich Marcos´ Strategie.Sein Ziel ist das "Verschwinden" in der mexikanischen Zivilgesellschaft. "Wir wollen gegen die Notwendigkeit kämpfen, im Untergrund zu leben!" Aber die Metapher des Kampfes wird zur fabelhaften Maske. Der Kapitalismus wird als Löwe charakterisiert, dem man nur den Spiegel seiner eigenen Natur vorzuhalten bräuchte, um ihn zur Strecke zu bringen. "Den Löwen kann nur eine ebenso gewaltige, blutrünstige und mächtige Kraft besiegen." Aber worin ist dieser Löwe verkörpert, der die Welt noch weit und breit beherrscht?Marcos hat sich schon festgelegt: "Unser politisches Tun besteht nicht in der Übernahme der Macht, in der Übernahme der Macht durch die Waffen, aber auch nicht durch Wahlen oder durch einen Staatsstreich ... Wir sagen, daß was getan werden muß...im Umsturz des Machtverhältnisses besteht, weil das Machtzentrum nicht mehr den Nationalstaaten zugrunde liegt. ... Worum es uns geht, ist ein anderes politisches Verhältnis aufzubauen... Wer dieser Nation einen Sinn gibt, sind schließlich wir selbst, die Bürger und nicht der Staat. Wir werden Politik ohne Maske machen, aber mit unseren eigenen Ideen."Erwartet die Zapatisten der Aschermittwoch, an dem alle Masken fallen, vorausgesetzt, dass die Mächtigen nicht wieder ihren Rosenmontag feiern? Das wird nur die Geschichte zeigen.Manuel Vazquez Montalban: Marcos. Herr der Spiegel. Der Subcomandante trifft den Autor von Pepe Carvalho im Urwald von Chiapas. Aus dem Spanischen von Gerda Schattenberg-Rincon. Wagenbach-Verlag, Berlin 2000, 224 S., 34,- DMHugo Velarde, geb. 1958 in Bolivien, lebt in Berlin, wo er Redakteur der Monatsschrift Gegner ist.
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