Mode Ein Münchner Atelier bildet junge ausländische Schneiderinnen aus, die sonst kaum Chancen haben. Sie lernen dabei nicht nur, Kleider zu gestalten, sondern auch ihr Leben
Sie hat einen langen Weg hinter sich: 40 bis 50 Betriebe hat Marlen abgeklappert, vier pro Tag. Auf schriftliche Bewerbungen hatte die Irakerin nur Absagen erhalten, deshalb lief sie durch München – von Laden zu Laden, um nach einer Ausbildung zur Friseurin oder Schneiderin zu fragen. Nach ihrem Hauptschulabschluss fand sie keine Arbeit und musste als Ein-Euro-Jobberin Vogelfiguren aus Holz basteln oder Möbel schleppen.
Dann machte sie ein älterer Schneider auf „La Silhouette“ aufmerksam. Jetzt ist Marlen eine von 19 jungen Frauen aus Ländern wie Somalia, Irak, Afghanistan oder der Türkei, die in einem kleinen Mode-Atelier im Münchner Stadtteil Haidhausen eine Ausbildung zur Damenschneiderin machen. Die 21-Jährige ist im zweiten Lehrjahr
Lehrjahr und legt gerade ihre Zwischenprüfung ab. Sie liebt es, mit Mode, Farben und Stoffen zu arbeiten, manchmal träumt sie von den Schauen in New York und Paris, der großen Welt der Mode – vor allem aber hat Marlen endlich eine Perspektive.Wie sie finden viele Jugendliche mit Migrationshintergrund schwer einen Ausbildungsplatz, mangelnde Schulabschlüsse und Sprachkenntnisse erschweren die Suche nach einer Lehrstelle. Das glitzernde Universum der Modedesigner scheint unerreichbar.Für Barbara Hemauer-Volk, die Leiterin von „La Silhouette“, hat Mode wenig mit Glamour zu tun. Für sie ist Mode vor allem ein Mittel zum Zweck: Die jungen Frauen entdecken während der Ausbildung ihre Kreativität, sehen schnell Erfolge, entwickeln Selbstbewusstsein und lernen sich zu behaupten. Der Ausbildungsbetrieb wählt die angehenden Schneiderinnen nach „sozialer Dringlichkeit“ aus: Junge Migranten, Flüchtlinge oder Deutsche mit Brüchen im Lebenslauf. Hemauer-Volks Schreibtisch versinkt unter Stapeln von Papier, darunter 60 neue Bewerbungen, für nur fünf Ausbildungsplätze. Für sie sei es „ein Alptraum“ zu entscheiden, wer die Chance am dringendsten braucht, sagt die Leiterin.1987 wurden die ersten Auszubildenden unter Vertrag genommen. Hemauer-Volk arbeitete damals in einem Jugendheim. Immer wieder kamen türkische Mädchen zu ihr, die keine Ausbildung fanden – trotz bester Noten. Mit Unterstützung des Arbeitskreises Ausländerfragen konnte sie dann einen eigenen Ausbildungsbetrieb eröffnen – eine türkische Schneiderei verwandelte sich in „La Silhouette“.Hut aus einem GebetsteppichJeden Morgen um halb neun treffen sich Marlen, die anderen Azubis, Hemauer-Volk und die Meisterinnen in der kleinen, knallgrün gestrichenen Küche, um den Tag zu besprechen und sich auszutauschen. Dann rattern die Nähmaschinen in dem schmalen Zimmer, in dem die Auszubildenden schneidern, begleitet von Stimmengewirr und Pop-Musik aus dem Radio. Stich für Stich entstehen hier Teile, in die unterschiedliche kulturelle Einflüsse eingewoben sind. An den Wänden hängen bunte Fadenrollen, Collagen aus Zeitschriften, bedruckte T-Shirts und ein eleganter Hut – hergestellt aus einem Gebetsteppich.Fünf Meisterinnen kreieren mit den Auszubildenden eigene Kollektionen oder fertigen Einzelstücke für Kunden an. Manchmal provoziert Hemauer-Volk die Mädchen gezielt. Einmal war die Aufgabe, Kleider aus Müll herzustellen. Das war für einige nicht einfach. „Wenn du aus einem Township in Südafrika kommst und nur Abendkleider entwerfen willst, bist du beleidigt, wenn du ein Oberteil aus Kaffeefiltern machen sollst“, erzählt Hemauer-Volk. Sie lege aber besonderen Wert darauf, den Frauen beizubringen, aus wenig viel zu machen und stolz darauf zu sein.Kundenaufträge dauern bei „La Silhouette“ mitunter etwas länger, denn auch Angelegenheiten wie Wohnungssuche, Formalitäten beim Jugendamt und die Vorbereitung auf die Berufsschule müssen erledigt werden. Für manche Auszubildende bedeutete Schule in ihrem bisherigem Leben vor allem Misserfolg, teils haben sie gar keine reguläre Schulbildung erhalten. Auch Marlen näht lieber, „als Blätter auszufüllen“. Wenn sie besser Deutsch könnte, sagt sie, wäre alles einfacher. Manchmal verzweifelt sie fast, aber sie will es schaffen.Die 25-jährige Nuray gibt den Azubis Nachhilfe in Fächern wie Mathematik, bespricht den Lernstoff, erklärt fremde Wörter und demonstriert die Berechnung eines Kreises, indem sie ein Stück Stoff in Falten legt. Sie weiß, wie es sich anfühlt, nichts zu verstehen. Sie ist in der Türkei geboren, als Teil der kurdischen Minderheit. Mit 12 Jahren kam sie nach Deutschland, ihr Vater arbeitete hier in einer Bäckerei. Zwei Jahre später folgten ihre Mutter und Schwester. Die Hauptschule sei eine „Katastrophe“ gewesen, erzählt sie. Sie verstand den bayerischen Dialekt des Lehrers nicht, kassierte schlechte Noten, war völlig eingeschüchtert und schaltete ab.Mode ist für alle da2000 bekam Nuray einen Ausbildungsplatz bei „La Silhouette“. Mode war nie ihr Lebenstraum, sie konnte häkeln und stricken, eine Nähmaschine hatte sie nie bedient. Die Modenschauen fand sie anfangs schrecklich – der Laufsteg schien ihr für große, schlanke Frauen reserviert. Heute findet sie: Mode ist für alle da. „Durch Mode zeigst du deine Gefühle und wie du leben willst“, sagt Nuray. „Hier geht es nicht um Schönheit.“Sie ist mittlerweile selbst Schneider-Meisterin und fest bei „La Silhouette“ angestellt. Ehemalige Auszubildende wie Nuray führen den Lehrlingen vor, dass sie es schaffen können, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Über 120 junge Frauen haben Barbara Hemauer-Volk und ihr Team schon durch die Abschlussprüfung gebracht, keine hat abgebrochen. Nach der Ausbildung können die jungen Frauen die Meisterschule besuchen oder ein Modedesignstudium anschließen. Doch viele steigen sofort in den Beruf ein, um endlich Geld zu verdienen. Sie arbeiten in der Mode-Industrie oder gestalten Bühnenausstattungen für Theater. Marlen kann sich vorstellen, später Modedesign zu studieren. Sie würde gerne so berühmt werden wie Giorgio Armani, sagt sie: „Es ist der Traum jedes Designers, dass Stars deine Kleider tragen und die Menschen schön finden, was du machst.“
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