Wenn es noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts irgendwo in Deutschland eine charakteristische Landschaft der alten, überlieferten Bürgerlichkeit zu betrachten gab, dann war es in Baden-Württemberg. Dass künftig gerade hier Grün-Rote die Regie führen, bedeutet nicht weniger als eine gravierende Zäsur in der Sozial-, Kultur- und Politikgeschichte dieses Landes, signalisiert ein Ende der überlieferten Bürgerlichkeit.
Das ist ein Einschnitt. Aber es ist auch ein Abschluss. Denn begonnen hat der Prozess der Transformation von Bürgerlichkeit bereits in den späten sechziger, frühen siebziger Jahren. Bis dahin war die Christdemokratische Union eine bemerkenswert weit gefasste und höchst erfolgreiche soziale Allianz, die sich ganz betont in der „Mitte“ der Gesellschaft platzierte. Diese Allianz blieb beisammen, da sich alle ihre Segmente zustimmend in einem Set von Wertewelten wiederfanden: Religion, Familie, Fleiß, Ordnung, Staatstreue, Heimat.
Die Werterebellion der sechziger und siebziger Jahre, die aus dem akademischen Nachwuchs der bildungsbürgerlichen Mitte hervorging, nagte an diesem Bestand, unterspülte ihn schließlich im Laufe der folgenden Jahrzehnte. Die neuen Kohorten in der Schicht der „Gebildeten“ siedelten sich – erstmals im 19. und 20. Jahrhundert – mehrheitlich im linken Spektrum an, orientierten sich dann ab 1980 zunehmend an den Grünen. Das markierte den ersten Riss im bürgerlichen Lager.
Machtfaktor Zeit
Ein Jahrzehnt später verabschiedeten sich auch die hoch agilen, oft nun religions-, heimat- und familienlosen jungen Wirtschaftsbürger von den eher traditionalistischen, frommen, ehetreuen, sesshaften Kleinbürgern älterer Façon. So spaltete sich das bürgerliche Lager auf, nach Generationen, Lebensstilen, Wertvorstellungen.
Das wirkte auf die Politik der Union zurück, der es mehr und mehr misslang, einen Wertebogen vom klassischen Sozialkatholizismus ihres Kolping-Milieus über die verbohrte Deutschnationalität älterer Semester bis hin zum betriebsamen, global changierenden Individualbürgertum der jungen Generation zu schlagen. Und mittlerweile steht der moderne bürgerliche Nachwuchs keineswegs mehr in den Büros der Kreisverbände der Christdemokratischen Union Schlange, um die Mitgliedschaft in der Partei zu erwerben. Parteipolitik der konventionellen Art bringt ihm keinen Vorteil mehr für die gewerblichen Karriere. Und: Er hat dafür auch gar keine Zeit.
Denn an die Spitze des christdemokratischen Ortsverbands kommt allein der Local Hero, der ständig anzutreffen, in seiner Stadt allzeit präsent ist. Stefan Mappus aus dem Enzkreis war ein ganz typisches Beispiel dafür. Er ist wie die meisten christdemokratischen Ministerpräsidenten trotz ihrer plakativen Mobilitätsaufrufe aus seiner Heimatregion nie herausgekommen. Überhaupt: Kein ehrgeiziger CDU-Nachwuchspolitiker wäre bereit, die Heimatuniversität – bei Mappus die Uni Hohenheim – auch nur für ein Semester zu verlassen, weil man nach halbjährlicher Absenz sich der mühsam zusammengestellten innerparteilichen Hausmacht nicht mehr gewiss sein könnte.
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Wer in der CDU reüssieren will, der kann im außerpolitischen Beruf nicht allzu ambitioniert gefordert sein. Denn Zeit ist für Politik eine entscheiden Quelle von Einfluss- und Machtbildung. Der CDU-Politiker, der es weit bringen will, benötigt Zeit für den Info-Tisch, für die Ortsverbandsversammlungen, die Stadtratssitzung, die zahlreichen Kungelrunden und Kommissionen, für Schützenfeste und Wanderungen mit dem Heimatverein. Jungen Wirtschaftsbürgern fehlt es in der Regel an einem solchen üppigen Zeitbudget. Sie pendeln zwischen den „Wirtschaftsstandorten“ mit dem ICE, wenn der christdemokratische Ortsverband die Delegiertenlisten für den nächsten Kreisparteitag präpariert und darauf zum gemütlichen Bier und Körnchen übergeht.
Sinnstifter Umweltschutz
Die CDU steckt offensichtlich in einer Zwickmühle. Sie beschwört unverdrossen die christlichen Maßstäbe. Doch will und darf sie es damit auch nicht übertreiben; schließlich weisen ihre Anführerinnen mahnend auf die modernen und säkularisierten Lebenswelten junger Bildungsbürger und vor allem -bürgerinnen hin, die man als zeitgemäße Volkspartei des 21. Jahrhunderts auch mit neuen Ethiken zu erreichen habe. Kurzum: die Partei muss das „C“ rhetorisch weiterhin im Munde führen, denn es bindet die treuesten Wähler, über die sie noch verfügt. Aber das „C“ trennt die Union doch zugleich auch von den säkularisierten Lebensmilieus; es hat die Partei in vielen kulturellen Fragen aus der stets angestrebten und umhätschelten Mitte vertrieben. Ersatz oder eine Neudefinition des „C“ besitzt die Christdemokratie indes nicht, die dadurch ähnlich spirituell leer wirkt wie die andere, zuvor bereits verschlissene Volkspartei im Land.
All das wurde zur Chance der Grünen. Sie haben in vielerlei Hinsicht das Erbe der CDU angenommen. Sie stehen mittlerweile für Kontinuität, auch im Personal, für Stetigkeit und Berechenbarkeit statt für Chaos und Richtungskämpfe. Wie die CDU der Fünfziger Jahre setzen die Grünen heute auf Bewahrung, warnen vor den Gefahren des modernen Lebens und bedienen sich politisch durchaus der Ängste der Mitte. Das „Ö“ der Ökologie vermag offenkundig die Nachfolge des „C“ der Christdemokraten anzutreten. Natur fungiert als neuer Sinnstifter. Man kann damit wunderbar konservativ auftreten, ohne dadurch altbürgerlich oder gar reaktionär zu wirken. Natur ist schützenswert, ist fürderhin gegen die Hybris der Modernisierungsarchitekten zu verteidigen. Natur, Umwelt, Bio fließen auf diese Weise in eine neue Integrationsformel der mittlerweile gar nicht mehr so neuen Mitte zusammen. Und die Grünen figurieren als politische Repräsentanten dieser neuen Bürgerlichkeit. Gerade in diesen Wochen nutzte ihnen die Aura von Glaubwürdigkeit, Idealen, der Treue zu den klassischen Positionen. Allein, es ist nicht so einfach, eine solche Aura als führende Regierungspartei zu bewahren. Darin besteht aktuell wohl die einzige Hoffnung von CDU und FDP.
Franz Walter ist Professor für Politikwissenschaft an der Uni Göttingen. Einer seiner Schwerpunkte ist die Parteienforschung
Kommentare 4
Also bei aller prinzipiellen Wertschätzung: dieser Beitrag scheint mir doch zu abgehoben von den konkreten Verhältnissen im politisch eher rückständigen Baden-Württemberg zu sein.
1. Die Grünen hier bilden allenfalls zusammen mit der Sozialdemokratie eine Volkspartei. Und vice versa.( Dass es dabei eine sehr stark schwarz-grüne Orientierung gibt, mag sich aus der Geschichte "geschwisterlicher" Eifersüchtelei und Feindseligkeit seit der Nichtunterstützung von Rezzo Schlauch bei der Stuttgarter OB-Wahl von 1996 erklären - und der Rache der Grünen 2004. Bei beiden Gelegenheiten hat auch bereits S21 eine spaltende Rolle gespielt. Und vielleicht erklärt sich manches auch prinzipiell aus der etwas übertriebenen, eindimensionalen Technikbegeisterung der Sozis im Autoländle, wo die Sozis - solange sie überhaupt noch wahrnehmbar waren - auch sehr Schmid-affin waren.)
2. Gerade für die jüngste Wahl in BW gilt: es wurde eine Regierung (genauer: ein Ministerpräsident) abgewählt, weniger eine Alternative gewählt. Es war eher ein Misstrauensvotum denn eine Wahl.
3. Die Gründe für Misstrauen und Abwahl liegen - abgesehen von den Kern-Motiven der Stammwählerschaften - natürlich zum Teil in den im Beitrag beschriebenen Entwicklungen. Der entscheidende Tropfen aber, der das Fass zum Überlaufen brachte, lässt sich auf die Formel bringen: "Das tut man nicht!". Dagegen hat Mappus in seiner Art, Politik zu betreiben, ständig verstoßen, am deutlichsten und empörendsten am 30.9.2010. Daraus und aus dem Widerstand gegen S21 erklärt sich vermutlich der größte Teil der Wählerbewegungen zu den Grünen. Ich vermute mal, da ist innerhalb des Bildungsbürgertums ein gewisses Maß an "Peer Pressure" entstanden, was man aber (noch) nicht als "neue Bürgerlichkeit" bezeichnen kann.
4. Vorausgesetzt aber, die neue Bürgerlichkeit gibt es tatsächlich in hinreichend stabilem Umfang, dann muss sich jetzt erst noch zeigen, ob die Grünen sie tatsächlich repräsentieren. Und selbst wenn dies so sein sollte, dann wird es noch lange dauern, bis die Grünen zur alternativen Karriere-Plattform für politisch ambitionierte "neue Bürger" wird. In BW ist dies im Moment immer noch allein die CDU, auch wenn speziell in diesem Bundesland dieser andere Typus in der CDU nicht so sichtbar ist. Und das ist ja dann auch genau der Punkt, der den demokratischen Wechsel in diesem Land bislang unmöglich gemacht hat. Und genau deshalb ist ein Erfolg der neuen Regierung vor allem für die Demokratie in diesem Land von zentraler Bedeutung.
Es hat also eine "Revolution" im Ländle gegeben, aber die muss nicht von allgemeiner, bundesweiter Bedeutung sein. Natürlich ist niemand daran gehindert, sich den Funken zu kapern und im Sinne des Beitrags weiter zu tragen.....
Inzwischen gibt es ja auch einen regen Personalaustausch zwischen grün und schwarz: der der Grüne Oswald Metzger z.B. wurde schwarz, Alexander Kolb, Chef der Jungen Union in Schwaben, entdeckt plötzlich seine grüne Seele. Und begründet das ähnlich der hier dargestellten naiven Vorstellung: Ökologie gleich Naturerhaltung.
Die ökologischen Vorstellungen des grünen Mittelstandes beschränken sich wohl wirklich auf Bio-Lebensmittel und Bio-Energie für sich und den Nachwuchs. Die Hoffnung auf das ewige Leben nach dem Tode wird durch die Hoffnung auf ein möglichst langes, gesundes Leben im Diesseits ersetzt.
Das aber natürlich nur für die eigene Klasse. Bei der Berechnung der Hartz-IV-Sätze durch die Regierung Schröder/Fischer fanden ökologisch erzeugte Lebensmittel jedenfalls keine Berücksichtigung.
Und natürlich nur für den Teil der Welt, der schon bisher von der Zerstörung des Planeten am meisten profitiert hat. Deswegen akzeptiert der grüne Mittelstand Kriege zur Sicherung der Rohstoff- und Energieversorgung. Nicht zufällig nannte Fischers europapolitischer Berater Joscha Schmierer den US-Präsidenten Bush jr. einen „wirklichen Weltinnenpolitiker und insofern ein Obergrünen.“
Dadurch, dass sie den Pazifismus über Bord warfen und sich von sozialpolitischen Vorstellungen verabschiedeten, hat sich die grüne Partei letztlich auch von der Ökologie verabschiedet. Ein ökologisches Paradies für eine elitäre Minderheit kann es nicht geben. Wer die Zukunftsfragen der Menschheit beantworten will, muss sie für derzeit 7, in wenigen Jahrzehnten 10 Milliarden Menschen beantworten.
Grün,Öko Konservativ waren noch nie (unbedingt) ein Gegensatz. Die ersten Grünen, Herbert Gruhl und seine GAZ (Grüne Aktion Zukunft) oder die BGL (Bremer Grüne Liste) welche als erste Grüne in einen Landtag einzogen (Bremer Senat), mit Olaf Dinné und einer Hausfrau, sowie noch zwei anderen, wenn ich mich recht entsinne.
Und die ÖDP gibt´s ja auch noch.
Parteien haben schon immer Werte repräsentiert. Sie stehen für Vorstellungen, für Visionen( zumindest war dies früher so) und für politische Perspektiven, die sie aufzeigen.
Das ist bei den Grünen nicht anders. Und Regierungswechsel waren auch immer durch die Änderung innenpolitischer Wertvorstellungen möglich und dadurch beeinflusst.
Die 68-er Bewegung, eine neue Offenheit, Demos gegen den Schah und den Vietnamkrieg, eine Demokratisierung der Universitäten ( "unter den Talaren der Mief von 1000 Jahren), all dies waren innenpolitische Veränderungen, welche Willy Brandt es ermöglichten , Kanzler zu werden und seine neue Ostpolitik einzuleiten. Ohne einen gesellschaftlichen Akzeptanzverlust der von der Union vertretenen Werte, deren Festhalten an der realitätsfremden Hallstein-Doktrin beispielsweise wäre der Wechsel zu einer sozial-liberalen Koalition nicht möglich gewesen.
Eine solche Entwicklung haben die Grünen dann in den 70-ern mit erlebt und aktiv gestaltet. Entstanden aus Umwelt- und Antikriegsgruppen, formten sie sich mühsam zu einer Partei. Auslöser für ihre Entstehung waren aber die Baus von AKW-s, ein zunehmendes Bewusstsein darüber, dass die Menschen ihre natürliche Umwelt vernichten und die Aufrüstung mit der Stationierung atomarer Waffen auf deutschem Boden. Es waren äussere Bedingungen, die einen Teil der Gesellschaft dazu bewegten, aktiv zu werden und etwas gegen, nach ihrer Meinung falsche Entwicklungen, zu tun. Dies führte zur Gründung der Grün-Alternativen und damit zu auch einer Veränderung des Parteiensystems.
Nun binden Parteien ja Wähler und sind damit wesentliche Stabilisatoren unseres politischen Systems. Das trifft übrigens auf alle Parteien zu, die damalige PDS hat nach 1990 durch die Einbindung ihrer Anhänger in das neu entstandene bürgerlich-parlamentarische System einen wesentlichen Beitrag zu dessen Stabilisierung in den fünf neuen Bundesländern geleistet. Die Grünen binden bis heute ihre Anhänger in dieses System ein und wirken damit als einer seiner Stabilisatoren.
Dass die Grünen-Anhänger heute gebildet, teilweise gutsituiert sind, dass sie " angekommen sind in der Mitte der Gesellschaft", ist unbestritten und nicht nur in BW zu erleben, auch im Berliner Prenzelberg oder in Friedrichshein-Kreuzberg, einer Grünen -Hochburg, in der Ströbele drei mal ein Bundestagsdirektmandat holte. Die neuen Grünen, das zeigt BW, sind flexibel, gebildet, sie wollen das Leben genießen, ohne ihre Ur-Überzeugungen aufzugeben.
Der Konflikt ist damit vorprogrammiert, wird doch ein Teil der grünen Basis notwendige Sachentscheidungen nur zähneknirschend akzeptieren. Und in Stuttgart führen die Grünen die Regierung, das heisst, das Argument, wir müssen dies tun, weil wir der kleinere Partner sind, zählt hier nicht. Noch nie war der, theoretische, Handungsspielraum grüner Min ister so groß wie in Stuttgart, noch nie war aber auch der Grat, auf dem die Grünen balancieren, so schmal, die Gefahr des Scheiterns so real und greifbar.
Es ist eine Chance, erwachsen aus der Unfähigkeit eines Stefan Mappus, BW zu regieren, eine Chance, die die Grünen sich aber auch jahrelang erarbeitet haben. Wie sie sie nutzen, wird mit darüber entscheiden, ob sie so eine Chance noch ein mal erhalten und ob perspektivisch eine neue Form des Regierens, in anderen Bundesländern und irgendwann auch im Bund, möglich ist. Winfried Kretschmann, der erste grüne Ministerpräsident, hat mehr als nur die Verantwortung für Baden - Würtemberg. Er führt ein Modellprojekt an, das zeigen könnte, wie Politik auch funktionieren kann.
Good Luck.