Bürgerkrieg

Berliner Abende Um elf Uhr macht das Bürgeramt auf. Die erste Bürgerin kommt schon um zwanzig nach zehn. Gleich darauf betritt die zweite den linoleumglänzenden Flur ...

Um elf Uhr macht das Bürgeramt auf. Die erste Bürgerin kommt schon um zwanzig nach zehn. Gleich darauf betritt die zweite den linoleumglänzenden Flur und setzt sich zögernd neben die erste auf die Bank. "Wie geht das denn hier?", fragt sie zögernd.

Die erste Bürgerin erklärt, dass man im Empfangsraum eine Wartenummer ausgehändigt bekomme und aufgerufen werde. Der Empfang ist verschlossen und mit Jalousien verhängt. "Wieso kann man die Wartenummer nicht schon hier draußen ziehen?" Ein dritter Bürger mutmaßt: "Dann würden sich die ersten ihre um Mitternacht holen."

Schweigend starren die Wartenden vor sich hin. Um halb elf sind es schon zehn, minütlich werden es mehr. Alle durchlaufen das gleiche Ritual: Flur auf und abschauen, Hinweise auf der Empfangstür lesen, so tun, als sähe man die anderen Wartenden nicht.

Weil es freie Bänke nur noch weit entfernt vom Empfang gibt, bleiben sie jetzt stehen, bilden langsam einen Kreis um die Glastür. Die Luft ist voller Spannung, man weicht Blicken aus, prüft seine Unterlagen zum wiederholten Mal, möchte die Rangfolge klarstellen, wagt es aber nicht, denn es unternimmt ja niemand einen Angriff darauf.

Fünfundzwanzig Minuten vor elf sagt die zweite Bürgerin zur ersten: "Ich werde immer nervöser!"

"Wieso?"

"Jetzt sitzen wir hier schon so lang, aber kriegen wir wirklich die erste Nummer?"

Der dritte Bürger antwortet betont laut, damit alle es mitbekommen: "Wir wissen ja, dass wir die Ersten waren. Nur die anderen wissen es nicht."

Die Bürgerin in Pumps, die erst als Zwanzigste den Flur betrat und sich direkt neben den Empfang stellte, tut, als habe sie nichts gehört.

Die zweite Bürgerin antwortet dem Dritten ebenso bühnenlaut: "Es wäre unfair, wenn sich jemand vordrängelt."

Die erste Bürgerin mischt sich ein, ihre Worte haben einen drohenden Unterton, sind an die zweite Bürgerin gerichtet, meint aber alle Wartenden: "Das werden wir verhindern." Ihr Lächeln wirkt wie geschminkt.

Es ist zehn vor elf. Vor dem Empfang drängen sich nun fünfundzwanzig stehende Bürger. Die auf den Bänken mustern sie ganz genau. Wissen sie überhaupt, dass hier mal eine Ordnung war? Der dritte Bürger löst seine Spannung mit einem Kichern: "Das ist eine sitzende Schlange. Das Ende ist irgendwo dahinten." Niemand reagiert. Die Stehenden wirken wie festgeklebt.

Die erste Bürgerin hält es nicht mehr aus. Sie springt auf und schiebt sich demonstrativ vor die Bürgerin in Pumps, deren Stirn schon die Empfangstür berührte. Diese weicht ohne Widerwort zurück, aber man kann nicht wissen, ob sie es freiwillig auch getan hätte, insofern bleibt ein Hauch Peinlichkeit in der Luft.

Aber die zweite Bürgerin und der dritte haben das Signal verstanden. Auch sie springen jetzt auf, drängen sich um die erste Bürgerin, ganz dicht an die Empfangstür. Zusammen fühlen sie sich stark. Bis neun Minuten später die Jalousie hinter der Glastür ruckt, unterhalten sie sich angeregt und gutgelaunt über völlig andere Sachen. Der Rest der Bürger schweigt.

Wenn sich die Glastür öffnet, wird ihr Kampf beginnen.

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