Bürgermeister im Rollstuhl

DAGESTAN Weder Geschäftsleute noch islamische Würdenträger denken an eine Abkehr von Russland

Offenbar voreilig hat Moskau die militärische Niederlage der islamistischen Rebellen unter dem tschetschenischen Warlord Shamil Basajew verkündet. Der Anschlag auf die russische Garnison Buinaksk in Dagestan, bei dem am Sonntag 56 Menschen - vorwiegend Frauen und Kinder - ums Leben kamen, war eine Initialzündung für erneute Kampfhandlungen, aber auch die Rekrutierung weiterer dagestanischer Freiwilligenformationen zur Abwehr der islamistischen Guerilla.

Wenn sich der Freiwillige Gadschi während einer Kampfpause in Botlich langweilt, stellt er sein Sprechfunkgerät auf die Wellenlänge der Freischärler ein und überschüttet die »Befreier Dagestans« mit Hohn und Spott. Die - eingegraben am gegenüberliegenden Berghang - antworteten in der Regel frustriert und mürrisch. Nach dem Raketenangriff eines russischen Hubschraubers fragt Gadschi: »Lebst du noch?«. Ein Tschetschene kontert: »Fahr die Ernte ein.« Gadschi, die Schrotflinte auf den Knien, zeigt sich interessiert: »Mohn oder was?« Der Tschetschene: »Kokain.« Gadschi: »Stimmt, Kokain, das ist wirklich das Beste.« Dann setzt er nach: »Wann haust du ab?« Der Tschetschene kontert: »Schweig, du Unglücklicher!« Damit bricht der Funkkontakt ab.

Es ist noch nicht lange her, da kamen die Tschetschenen über die Grenze um Schiefer zu verkaufen, und man pflegte eine regen Handel. Nun aber, nach den Ereignissen der vergangenen Wochen fühlen sich die Awaren auf der dagestanischen Seite schwer getäuscht. »Während des Tschetschenienkrieges haben wir Tausende von ihnen aufgenommen und versorgt«, erinnert sich Bagadir Kubalajew, Kommandeur des 600 Mann starken Freiwilligenverbandes von Botlich, »aber sie haben die Gastfreundschaft missbraucht.«

Den Rebellen des tschetschenischen Feldkommandaten Shamil Basajew wird es vermutlich auch beim zweiten Anlauf nicht gelingen, mit ihrem Vorstoß einen Aufstand auszulösen, wohl aber für die Mobilisierung weiterer dagestanischer Freiwilliger zu sorgen. Fremden Boden zu erobern - und sei es unter der Devise einer »Befreiung von den Ungläubigen« gilt im Kaukasus von jeher als schweres Verbrechen. Machatsch Magomedow, Historiker an der Pädagogischen Universität von Machatschkala verweist auf den entscheidenden Fehler der Guerilla. »Sie kamen mit Waffen und islamischen Losungen in traditionell islamische Gebiete, in denen der Islam auch während der Sowjetmacht nicht erschüttert wurde.« So formierte sich fast spontan ein Freiwilligenkorps, das den Segen der dagestanischen Regierung hat, denn in der Hauptstadt Machatschkala herrscht noch immer Skepsis, ob die russische Armee wirksam genug gegen die Rebellen vorgeht. Daher sind die Freiwilligen ein willkommenes Druckmittel gegenüber Moskau. Kein Zufall, dass ihre Initiatoren - der Bürgermeister von Machatschkala, Said Amirow und der Vizepremier und Chef der Ölgesellschaft Dagneft, Gadschi Machatschew - Awaren sind. Diese Ethnie besiedelt die Region entlang der Grenze zu Tschetschenien und stellt mit 30 Prozent die größte Volksgruppe in der Kaukasusrepublik. Dagestans awarische Elite braucht nicht viel Phantasie um sich vorzustellen, wer bei der von Basajews Islamisten anvisierten Verschmelzung beider Republiken das Sagen haben dürfte. Mowaldi Udugow, einstiger Außenminister Tschetscheniens und heute Zweiter Sprecher der Schura - eines Rates religiöser und militärischer Führer, der in Opposition zum tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow steht - ist davon überzeugt: Die Vereinigung steht auf der Tagesordnung. Ein großer Teil des Kaukasus trage historisch die Bezeichnung »Dagestan«, und Tschetschenien sei der bereits von der Kolonialmacht (gemeint ist Russland - U.H.) befreite Teil dieses Gebildes.

Unbestritten gibt es auch in Dagestan seit der Perestroika eine starke Besinnung auf den Islam, doch zumindest in den Städten ist von einer Hinwendung zu den Fundamentalisten nichts zu spüren. Dagestan entwickelt sich ähnlich wie die Türkei, meint Madina, eine Händlerin, die West-Mode verkauft und selbst schon andere islamische Länder bereist hat. Viele der früher überzeugten Kommunisten seien heute ebenso überzeugte Muslims. Mit den islamischen Sitten hält man es indes nicht immer so genau. Es gibt Diskotheken - auch für Schwule und Lesben - und, in den Städten am Kaspischen Meer, wird noch mehr Wodka getrunken als in Moskau.

Die Wahhabiten, aus denen sich die islamistische Guerilla rekrutiert, profitieren davon, dass es wohl nur wenige Gebiete in Russland gibt, die derart von einer Welle der Kriminalität überrollt werden wie Dagestan. Mafia-Clans kämpfen um den Handel mit den Reichtümern der Republik: Kaviar und Stör, illegal eingeführtes Benzin und Narkotika. Seit 1996 sind in Machatschkala mehrere hohe Politiker und Würdenträger Anschlägen zum Opfer gefallen: ein Finanzminister, ein Handelsminister, der Direktor des Hafens, der Mufti von Dagestan. Auf Said Amirow, den Bürgermeister, wurden 13 Anschläge verübt, vor einem Jahr sogar Raketen auf sein Haus abgeschossen, wobei 18 Menschen ums Leben kamen - der Bürgermeister aber wie durch ein Wunder überlebte. 27 Kugeln hat man aus seinem Körper schon entfernt - heute sitzt Said Amirow im Rollstuhl.

Wer die Jeeps und nagelneuen, weißen BMW in Machatschkala sieht, könnte meinen, Dagestan sei eine reiche Republik. Doch der Reichtum konzentriert sich in den Händen einiger weniger, der monatliche Durchschnittsverdienst liegt hier bei 30 Dollar gegenüber 200 in Moskau. Und die Dagestaner wissen, ohne Geld aus Moskau gäbe es kein Überleben. Also, wozu sollte man sich von Russland lösen - das Beispiel Tschetschenien wirkt eher abschreckend. Da nun aber die offizielle Geistlichkeit Dagestans mit den Mächtigen in Machatschkala verfilzt ist, bietet sich den Wahhabiten ein ideales Feindbild. Die von ihnen gepredigte Reinigung des Islam erscheint angesichts der grassierenden Korruption wie ein heilige Mission, die vor allem in Bergdörfern wie Karamachi und Tschabanmachi, der stärksten Bastion der Wahhabiten, um eine ergebene Anhängerschaft weiß. Folglich hat sich die Regierung in Machatschkala dazu entschlossen, im Botlich-Gebiet bei den Kämpfen mit Basajew und seiner Gefolgschaft nun auch grundsätzlich mit den Wahhabiten abzurechnen. Aber gerade durch einen massierten Einsatz des russischen Militärs droht ein komplizierter innerer Mechanismus, der das Zusammenleben der über 30 Völker in Dagestan regelt, aus dem Gleichgewicht zu geraten.

»Die Banditen« müssen vernichtet werden, dröhnt Dagestans Präsident Magomed-Ali Magomedow und ist sich sicher, dass die Freischärler vom Ausland finanziert werden. Der russische Geheimdienst verfüge über entsprechende Beweise. Shamil Basajew habe mindestens 25 Millionen Dollar für seine Militäraktionen erhalten - seine Sponsoren säßen in den USA, in Großbritannien, Saudi-Arabien und Jordanien. Dort sei man daran interessiert, dass nach Tschetschenien nun auch Dagestan aus der Russischen Föderation herausbreche, um Moskau vor allem die Kontrolle der Ölpipelines aus Aserbeidshan streitig zu machen.

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