Vor zwei Jahren las ich in einem obskuren Magazin für orthodoxe Juden eine merkwürdige Geschichte, in der behauptet wurde, ein Nachfahre Adolf Hitlers sei zum Judentum konvertiert und lebe heute in Israel. Schon lange gab es in jüdischen Kreisen Gerüchte über die "Büßer"-Kinder von Nazis, die zum Judentum übertraten, um auf diese Weise die Sünden ihrer Väter zu sühnen. Ich fragte mich, was dran sei an der Geschichte, grub tiefer und fand heraus, dass in der Tat ein entfernter Verwandter Hitlers als orthodoxer Jude in Israel lebt. Ich reiste nach Jerusalem, um ihn zu treffen und stieß auf eine ganze Subkultur von Nazis abstammender Juden.
Nie eine Antwort bekommen
In der Jerusalemer Altstadt führt ein matt golden glänzendes Gässchen durch das jüdische Viertel. Orthodoxe Juden in langen schwarzen Mänteln und runden Pelzhüten huschen vorbei. Nicht weit von der Klagemauer lebt Aharon Shear-Yashuv, der Sohn eines Nazis aus dem Ruhrgebiet, in einem Appartement. Wie alle Rabbis mit Bart und in Schwarz, öffnet er die Tür und zuckt fragend die Schultern. Er führt ins Arbeitszimmer, setzt sich und sagt mit stark deutschem Akzent: "My father was in the Waffen-SS." Auf die Frage, was sein Vater in der Waffen-SS getan habe, antwortet er ruhig: "Ich weiß es nicht. Als ich älter wurde, versuchte ich zu fragen, aber ich habe nie wirklich eine Antwort bekommen."
Shear-Yashuv ist 1940 geboren, er war vier, als er seinen Vater zum ersten Mal sah. "Ich kann mich nicht mehr erinnern," sagt er, und es scheint, als wolle er es auch nicht. Seine Konversion erklärt er nicht mit psychologischen, sondern mit theologischen und historischen Begriffen: "Während meines Theologiestudiums wurde mir klar, dass ich nicht Priester werden konnte", sagt er. "Ich kam zu dem Schluss, dass das Christentum eine heidnische Religion sein muss. Eines ihrer wichtigsten Dogmen ist die Menschwerdung Gottes, und wenn Gott zum Menschen wird, kann der Mensch auch Gott werden." Er hält inne. "Hitler wurde zu einer Art Gott." Ob er auch Jude geworden wäre, wenn es keinen Holocaust gegeben hätte? Er schaut überrascht. "Oh ja."
Nur langsam dringen Bruchstücke der Geschichte durch den Nebel seiner theologischen Erörterung. Sein Vater war außer sich, als er nach Amerika ging, um jüdische Theologie zu studieren. "Er sagte, ich sei verrückt geworden und nicht mehr sein Sohn." Als Shear-Yashuv nach Israel zog, wollten es seine Eltern nicht wahrhaben und erzählten ihren Nachbarn, er lebe noch immer in den USA. Jahre später arrangierte seine Schwester ein Treffen auf einem Düsseldorfer Bahnhof. Shear-Yashuv kam in Begleitung eines Freundes. Sein Vater äugte aus dem Zug, sah den fremden Juden und weigerte sich, auszusteigen.
Heute, glaubt Shear-Yashuv, sei Deutschland dem Untergang geweiht. Die Leute heirateten nicht mehr und bekämen kaum Kinder - im Gegensatz zu Ausländern im Land. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Deutschland nicht mehr deutsch sein würde. "Ich denke, das ist die Strafe für den Holocaust", resümiert er sachlich. "Deutschland wird untergehen, da besteht kein Zweifel." Nur die Juden, dieses kleine Volk, werden nie aussterben. Er mag diese Ironie der Geschichte.
Auf dem Rückweg durch die Altstadt denke ich über die Begegnung nach. Die Geschichte dieses seltsamen, netten Mannes scheint nicht vollständig zu sein. Ich suche Rat bei Dan Bar-On, einem Psychologie-Professor an der Ben-Gurion-Universität, einem der weltweit renommiertesten Experten für die Kinder der Täter. Am Telefon sagt er gerade heraus: "Der Beweggrund der Konvertiten ist, Teil der Gemeinschaft der Opfer zu werden." Man wird die Bürde los, zu den Tätern zu gehören.
Das Motivationspaket
Ein paar Tage später bringt mich ein schaukelnder Bus zur Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, die auf einem Berg nahe Jerusalem gelegenen ist. Ein Mausoleum aus Glas und Beton. Es herrscht Stille. Auf der Terasse eines Cafés treffe ich eine Frau, die im Erziehungsministerium arbeitet. Sie sei in München geboren, hat sie am Telefon gesagt und sie sei Konvertitin. Der Wind weht von der Wüste her, sie nippt an ihrem Kaffee. Sie ist Ende 30, trägt ein Kopftuch. Ihr Gesicht würde gut nach Bayern passen, ihre Gebärden, die emphatischen Bewegungen, der aufsteigende Tonfall ihrer Stimme, sind durch und durch jüdisch. Sie will nicht, dass ihr Name genannt wird. Schnell und ärgerlich erzählt sie, ihre Großeltern seien zwar keine Täter des Holocaust gewesen, aber Mitläufer und Antisemiten. Ihre Mutter sage immer noch Dinge wie "In Amerika gibt es viele reiche Juden", und die Geschichten ihrer Familie über den Krieg seien "klassisch deutsch". Sie ballt die Fäuste. "In diesen Geschichten gab es weder Juden noch Nazis. Nein, wir sind keine Nazis. Wir kannten keine Juden, wir wussten von nichts. Ich war verärgert."
"Verärgert" ist das Wort, das sie bevorzugt verwendet, wenn sie über Deutschland spricht. "Verärgert" war sie, als kürzlich in München eine Synagoge eröffnete und die Leute sagten: Jetzt haben wir den Kreis geschlossen, jetzt ist alles gut." Sie ärgert sich über den Reichtum in Deutschland. "Alles ist so sauber, so nett", sagt sie und blickt nach draußen über die Berge, "und hier ist das Leben so schwierig." Warum sie Jüdin wurde? Im Midrasch, einem jüdischen Kommentar zur Thora, stehe geschrieben, dass es Nichtjuden gibt, die mit jüdischen Seelen geboren würden. Sie gehörten zum jüdischen Volk und würden ihm schließlich beitreten. Ich erinnere mich, Shear-Yashuv hat das auch gesagt.
Warum sie hier sei? "Um hier zu leben und zu arbeiten, um diese Brücke zwischen zwei Welten zu sein." Sie wiederholt das Wort "Brücke" und nennt es "aufregend". Sie spricht von ihrem "Motivationspaket" und bezeichnet den deutschen Diskurs über den Holocaust als "abgehoben". Ihre Ausführungen haben trotz ihrer Rage etwas Gefühlloses. Pünktlich zum Schlag der vollen Stunde schaut sie auf die Uhr und sagt: "Ich muss jetzt gehen."
Noch einmal rufe ich Bar-On an. Ich habe das Gefühl, die Konvertiten antworten mir nur halb, rücken nicht mit der ganzen Wahrheit heraus. Sie sprechen von einem Genozid, der gar nicht zu existieren scheint, nicht einmal in ihren Erinnerungen. Bar-On meint, die Kinder der Täter suchten einen Weg, ihre Entscheidung zu rationalisieren, der Gemeinschaft der Opfer beizutreten.
Später treffe ich einen weiteren Konvertiten, einen jungen Mann, 24 Jahre alt, gutaussehend und leicht reizbar. Er kommt in einen Kebab-Laden an der Hauptstraße West-Jerusalems gestürmt und erzählt unumwunden, dass er Deutschland hasse. "In Deutschland waren mir alle egal", spuckt er aus. "Mir war alles egal." Und beschreibt eine chaotische Jugend, wie er aus der Schule geworfen wurde, in die Armee ein- und wieder austrat. Später überredet er mich, mit ihm im Unabhängigkeitspark ein paar Schritte zu gehen, nippt an seiner Cola und erzählt, wie wunderbar Israel sei.
Aus seiner Rede über seine Heimatstadt in einer westdeutschen Industrieregion klingt eine schreckliche Wut. Als ich ihn frage, warum er konvertiert sei, starrt er auf die schütteren Bäume, steckt wie ein Pubertierender die Arme zwischen die Knie und sagt: "Ich hasse diese Frage. Ich weiß es nicht."
Auf die Frage nach seiner Familie, antwortet er, er habe sie nie nach dem Krieg gefragt. Bar-On sagte: Konvertiten sprechen mit ihren Eltern so wenig wie möglich über den Krieg. Er nannte es die "doppelte Mauer", eine Mauer des Schweigens, die die Kinder und die Eltern errichten. Selbst wenn ein Part versuchte, sie einzureißen, der andere würde alles daran setzen, sie wieder aufzurichten. Weshalb, fragte ich Bar-On, sagen alle Konvertiten, sie seien jetzt glücklich? Sind sie wirklich glücklich? Er meinte: "Die Konversion gibt ihnen das Gefühl, ihren Frieden gefunden zu haben. Aber Konvertieren ist keine Lösung. Um die Vergangenheit aufzuarbeiten, muss man versuchen, zu verstehen, wie der eigene Vater zum Massenmörder werden konnte. Und die Möglichkeit erwägen, dass man selbst zu ähnlichem fähig gewesen wäre." In Israel zu sein bedeutet, so weit wie nur irgend möglich von der eigenen Geschichte entfernt zu sein.
Und? Sind sie alle verrückt?
Ich kehre zurück in Jerusalems Vorstädte, um eine Künstlerin zu treffen. Sie ist Konvertitin und Mitglied einer Organisation, die sich für die Menschenrechte der Palästinenser einsetzt. Sie öffnet die Tür, führt durch einen Flur, bittet, Platz zu nehmen und reicht Kaffee. Sie ist 42 Jahre alt, klein, drahtig und trägt das Haar kurz. Sie redet schnell, die Worte strömen aus ihr heraus. Als sie erfährt, dass ich schon viele Konvertiten interviewt habe, fragt sie lachend: "Und? Sind sie alle verrückt?" Wie sie das meine? Sie zuckt mit den Schultern. "Die Konversion ist mit einem Stigma belegt". Und einige Konvertiten seien tatsächlich erschreckend dumm. "Bei manchen fragte ich mich, woher sie die geistige Unabhängigkeit zu ihrer Entscheidung nahmen - gerade wenn sie für ein ultraorthodoxes Judentum ihre Freiheit aufgaben."
Warum ist sie selbst konvertiert? Sie zieht Grimassen. "Das ist keine rationale Entscheidung, es geht hier um Religion." Sie sei 25 gewesen, als sie nach Israel abgehauen sei, um Jüdin zu werden. Heute hadert sie mit der unreifen Entscheidung. Der Rassismus, der in Israel herrscht, erschütterte sie. - "Rassismus gegenüber ihrer eigenen Person?" "Gegenüber den Arabern", entgegnet sie. "Ich hatte das Gefühl, als sagten mir alle: Um ein guter Jude zu sein, muss man die Araber hassen." Es sei schwer für sie, weil sie in gleich dreifacher Hinsicht anders sei: deutsch, lesbisch und linksradikal. "Ein Psychiater würde Ihnen sagen, Sie seien hergekommen, um nicht dazu zugehören", sage ich ihr. Sie lacht: "Denken Sie nicht, ich hätte nicht selbst schon das selbe gedacht. Damals wollte ich mir eine Geschichte aneignen, für die man sich nach meinem Empfinden nicht schämen muss." Sie fährt sich rasch mit den Händen durch´s Haar und schüttelt den Kopf. "Nun frage ich mich, ob ich bleiben werde. Ob ich für dieses Land stark genug bin."
Der jüdische Hitler
Später treffe ich den Mann, um dessen willen ich nach Israel gekommen bin, den "jüdischen Hitler". Er ist Professor für jüdische Studien an einer der Universitäten. Als ich ihn anrufe, bin ich fast überrascht, dass er abnimmt und er mich ohne Umschweife in seine Wohnung einlädt. Er lebt in einem schmuddeligen weißen Block ganz in der Nähe des Hauses der Künstlerin.
Der jüdische Hitler empfängt in einem Zimmer, das vor Büchern birst. Er ist groß und schlank, trägt ein leuchtend gelbes Hemd und spricht lebhaft, sein Akzent ist eine seltsame Mischung aus Hebräisch, Englisch und Deutsch. In der Hand hält er ein Blatt Papier mit einem Familienstammbaum.
"Ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen", sagt er. "Unter der Bedingung, dass Sie meinen Namen nicht nennen". Er legt das Blatt Papier vor mich hin, zeigt auf Namen und beginnt einen verschlungenen, nahezu unverständlichen Bericht über das Leben von Deutschen, die vor über einem Jahrhundert gestorben sind. Am Ende tippt er mit dem Finger auf das Blatt und fragt: "Ok?" Als ich den Stammbaum zu seinem Finger hinab verfolge, lese ich: Alois Hitler. Alois Hitler hatte zwei Söhne - Adolf und Alois junior. Und Alois zeugte einen Sohn namens Hans. "Ok?", fragt er. "Hans heiratete meine Großmutter Erna, nachdem sie sich von meinem Großvater hatte scheiden lassen."
Er hasse die Hitler-Seite seiner Familie, fügt er eilig an und beharrt "Ich habe weder die DNA von Adolf und seiner Familie noch wurde ich von ihr erzogen". Hans traf er ein einziges Mal. Die Hitlers kamen zum Tee, als er zwölf Jahre alt war. "Hans war sehr nett", sagt er. Und Erna freute sich unglaublich darüber, in den Hitler-Clan eingeheiratet zu haben. "Ich kenne sie nicht", sagt er. "Sie gehörte nicht zu meiner Familie". Nach dem Krieg änderte Erna ihren Namen, ihre Überzeugung behielt sie bei.
Seine Mutter, erzählt der Professor, wurde von Hans und Erna enterbt, als sie ihn als ein uneheliches Kind gebar. Sie brach später alle Verbindungen zur Familie ab, doch sie verdrängte die Vergangenheit nicht. "Wir sprachen offen. Ich schätzte immer, dass ich von ihr nie diese übliche deutsche Lüge hörte: Wir wussten von nichts."
Sein Weg zum Judentum war lang. Als Teenager lernte er ein Mädchen kennen, das sich für das Judentum interessierte, las "Mein Kampf", wurde Pazifist. Als er seinen Wehrdienst antreten sollte, entschloss er sich, Theologie zu studieren, um von einem ironischen Überbleibsel der Nazizeit zu profitieren: Hitler hatte dem Papst versprochen, keine Priester für den Krieg zu rekrutieren und das Gesetz wurde seitdem nicht geändert. Für das Studium musste er in den frühen 70er Jahren sechs Wochen nach Israel. "Ich fühlte mich zuhause. Ich lebte nicht mehr im Konflikt mit der älteren Generation. Und ich dachte, ich begenete zum ersten Mal einer Nation, die zu Recht stolz auf sich sein konnte. Damals - heute ist es schwieriger."
Wir gehen auf den Balkon, um zu rauchen. Er inhaliert seine Zigarette in vollen Zügen. Ein Genussmensch, der nicht die Schwere der anderen Konvertiten vermittelt, die von einer unsichtbaren Last niedergedrückt schienen. Ist es, weil er mit seiner Mutter über alles gesprochen hat? Ich nehme all meinen Mut zusammen und frage, ob er ohne den Holocaust konvertiert wäre? "Ich denke nicht", sagt er. Er lässt den Blick über die triste Vorortstraße im Herzen des jüdischen Staates schweifen und spricht über die Bilder des Holocaust, die in seinem Kopf herumspukten. "Ich sehe diesen Soldaten, wie er auf einem Kind herumtrampelt und es schließlich tötet." Er spricht von der Aggression, die aus den Bildern sprach und der Aggression, die er selbst empfand.
"Alles, was ich sagen kann", sagt er aus einer Rauchwolke heraus "ist, dass dieses Gefühl verschwunden ist, seit ich nach Israel gekommen bin."
Übersetzung aus dem Guardian von Holger Hutt
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