Cacerolazo

Macht der Ohnmacht Vor einem Jahr wurde Argentiniens Präsident Fernando de la Rúa gestürzt

Gerade hatte ich den Fernsehapparat nach der peinlichen Rede unseres Präsidenten an die Nation abgeschaltet, als ich den ersten Lärm hörte. Draußen schlugen überall Leute auf Töpfe und Pfannen - als würden sich alle in Wut trommeln. Mich trieb die Neugier auf die Straße. An einer Ecke der Avenida Florida stand eine Gruppe und veranstaltete einen Heidenlärm, an der nächsten Ecke auch. Wir gingen zu ihnen und so immer weiter, bis sich langsam ein Zug bildete. Wir liefen ganz automatisch Richtung Plaza de Mayo zum Regierungssitz. Aus allen Straßen kamen die Leute. Unser Trommeln war Ohmacht und Macht zugleich", erinnert sich der Psychologe Aldo Barone an den nächtlichen Cacerolazo - das Töpfe schlagen von Buenos Aires -, das vor genau einem Jahr, am 20. Dezember 2001, den Präsidenten Fernando De la Rúa in die Flucht schlug. Er musste aufgeben, als Buenos Aires mit Demonstrationen, Streiks und Plünderungen - häufig von der peronistischen Opposition angetrieben - auf eine gelähmte Regierung reagierte. Hunderttausende setzten sich über Ausnahmezustand und Sperrstunde hinweg. Das Land versank in Anarchie, innerhalb von einer Woche gaben sich in der Casa Rosada vier Präsidenten die Klinke in die Hand. Mehr als 30 Menschen starben im Straßenkampf um Nahrungsmittel und die Macht.

Von dieser geballten Kraft des Aufruhrs ist heute nicht viel geblieben, wohl auch, weil die Peronisten nun wieder selbst regieren. Argentinien verharrt in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, der soziale Kollaps ist total. Ein Jahr hat gereicht, um jeden zweiten Argentinier an den Rand der Armut zu treiben. In einer der größten Lebensmittelexportnationen der Erde sterben Kinder an Hunger - Resignation liegt wie Mehltau über dem Land.

Den korrupten Netzwerken von Politik, Gewerkschaft und Justiz konnte der Volksaufstand vor Jahresfrist nicht das Geringste anhaben - so schnell, wie die Argentinier die Macht auf der Straße übernommen hatten, so schnell gaben sie alles wieder auf. Dennoch wäre vor dem 20. Dezember 2001 undenkbar gewesen, was jetzt geschieht: Ex-Präsident De la Rúa muss sich vor Gericht für politisches Versagen und die Toten des Aufstandes verantworten.

Inzwischen halten sich 420 Parteien für berufen, die Geschicke der Nation in die eigene Hand zu nehmen. Die für März 2003 anstehenden Wahlen werfen mit intriganten Vorspielen ihre Schatten voraus - Koalitionen gründen sich und zerfallen wieder, Parteiaustritte werden angedroht, vollzogen, revidiert, neue Parteien geboren, gepriesen und überrannt. Es erstaunt, wie viele sich in einer ökonomisch nicht nur verfahrenen, sondern auswegslosen Situation um die Macht reißen.

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