Jedes Kind kann heute mit Digitalkamera und Photoshop umgehen und weiß, dass Fotos keine ganz so enge Beziehung zur Wirklichkeit mehr unterhalten, wie sie es früher taten. Trotzdem erscheinen uns die journalistischen Fotos in Zeitungen noch als authentisch, und im Spanienurlaub lassen wir uns ablichten, um uns Jahre später auch noch erinnern und uns unserer Erlebnisse vergewissern zu können. Es scheint, als sei der Glaube unbeirrbar, dass das Foto ein Kronzeuge unserer Wirklichkeit ist, und dafür bürgt, dass in der Zehntelsekunde, in der sich die Kameralinse öffnet und wieder schließt, ein Ereignis auch genauso wie abgebildet stattgefunden hat. Die Theoretiker der Fotografie, von Susan Sontag bis Roland Barthes, meinten sogar, in dieser Eigenschaft d
t das Wesen des Fotografischen erkannt zu haben.Doch was passiert, wenn das abgebildete Ereignis nie passiert ist, und es die fotografierten Räume, Menschen und Szenarien so nie gegeben hat? Ein Hauptanliegen der zeitgenössischen Fotografie ist das Aufwerfen genau dieser Frage. Immer häufiger geht es darum, die Echtheit der fotografischen Abbildung, das vielbeschworene Wesen der Fotografie, komplett zu camouflieren - um Effekte des Realen, die sich bei näherem Hinschauen als elaborierte Fakes entpuppen.Keine anderer Künstler hat dieses Wahrnehmungsspiel so auf die Spitze getrieben wie Thomas Demand. Zurzeit kann man sich im New Yorker Museum of Modern Art von der überraschenden und oft unheimlichen Wirkung seiner Arbeiten überzeugen. Die bis dato umfangreichste Werkschau des 40-jährigen Berliners beweist, dass es sich bei seinem Ruhm um sehr viel mehr handelt als den Hype amerikanischer Sammler um junge deutsche Kunst. Auf den ersten Blick wirken die metergroßen, glänzenden und hocheleganten Bilder wie nüchterne Fotos von Balkonen, einer Waldlichtung, eines Treppenhauses, einer Badewanne oder einer abendlichen Terrasse. Doch schon bald bemerkt man, dass sie frappierend von einer Logik der Fälschung bestimmt werden. Bei den Bildern handelt es sich um Fotografien von verblüffend echt wirkenden Papierkonstruktionen. Der Effekt, den sie haben, ist allerdings nicht nur der von Verblüffung. Vielmehr lässt die Täuschung beim Zuschauer eine seltsame Ahnung aufkommen, eine unerklärliche Beklemmung.Ein Grund für die intensive Wirkung der Demand-Bilder ist, dass hier mehrere künstlerische Arbeitsprozesse von großer Qualität ineinander greifen. Demands plastisch überzeugende Bastel- und Papiermanie trifft auf eine fotografische Strenge, die an Thomas Ruff, Bernd und Hilla Becher oder Candida Höfer erinnert, und auf das flüchtige Zeitmoment, das man sonst eigentlich von den performativen Künsten kennt. Demand, der an der Kunstakademie Düsseldorf nicht Fotografie, sondern Skulptur studiert hatte, beginnt gewöhnlich mit einem Foto, das aus den Medien stammt, und erbaut auf dieser Grundlage ein dreidimensionales, lebensgroßes Modell aus Pappe und vorgefertigtem, farbigen Papier. In seinem Berliner Atelier in der Nähe des Hamburger Bahnhofs dauert diese Arbeitsstufe mithilfe von Assistenten zwei bis drei Monate. Danach fotografiert Demand die papierenen Raumskulpturen mit einer Schweizer Sinar, einer Kamera mit teleskopischer Linse und einer besonders hohen Auflösung. Die manchmal mehrere Quadratmeter großen Fotografien werden ohne Rahmen unter Plexiglas laminiert und ausgestellt. Das Endresultat wirkt zwar real, ist aber von der Wirklichkeit so weit wie für ein Foto nur möglich entfernt. Jede Papierskulptur wird nach dem Fotografieren zerstört und geht auf immer verloren.Wenn Demand nicht Naturszenen nachstellt oder sich mit den ideologisch gefärbten deutschen Architekturentwürfen zwischen Bauhaus, Albert Speer und Nachkriegsnüchternheit auseinandersetzt, wählt er Ausgangsfotos, die für kurze Zeit das öffentliche Bewusstsein beherrscht haben. Diese Ausgangsbilder sind Gedächtnis-Szenen im besonderen Sinne: Zumeist wurden sie für ein paar Tage in massenwirksamen TV- und Printmedien gezeigt und danach wieder vergessen, ohne zum ikonografischen Sinnbild zu werden. So nimmt sich Demand in Gate statt zusammenstürzender Zwillingstürme das Flugsteig-Gate vor, durch das die Al-Quaida-Attentäter unbehelligt hindurchgingen. Oder baut in Küche, statt des Bilds eines ungewaschenen Diktators mit zotteligem Bart, die schmutzige Bunkerküche nach, in der Saddam Hussein sich für Monate versteckt gehalten hatte.Demand unterwirft diese Gedächtnis-Szenen einer radikal-raffinierten Reduktion. Die entstehenden Bilder wirken stellenweise wie ein Nachbild, das auf der Netzhaut erscheint, kurz nachdem man die Augen schließt. Sie sind von Details, von sprachlichem, symbolischem und kreatürlichem Ballast befreit. Sie enthalten weder menschliche Gesichter noch Schrift. Es gibt keine Täter hinter den Tatorten, nur Kulissen, die eine diffuse Ahnung von der Tat provozieren. Das berühmte Stern-Foto des in einem Genfer Hotel tot aufgefundenen Uwe Barschel - vielleicht das einzige Ausgangsbild im uvre Demands mit ikonografischem Status - transformiert Demand in ein klinisch wirkendes Tableau mit blau gekachelter Badewanne und weißem Duschvorhang, das in ein kaltes, surreales Licht getaucht ist. Auch ohne Leiche sieht Badezimmer wie ein virtuell bereinigtes Fahndungsfoto aus. Gleiches gilt für die Arbeit Büro, die auf der Stürmung des Stasi-Hauptquartiers in der Berliner Normannenstraße in den Wirren des Jahres 1989 beruht. Die über den Boden verstreuten Akten sind unbeschrieben, scheinbar ohne Geschichte und ohne Bedeutung und wirken wie die Szene eines Verbrechens.Hinter dem plexigläsernen Glanz der Arbeiten verbirgt sich ein sinistrer Grusel, denn die papiernen Räume erscheinen zugleich anonym und bedrückend bedeutungsvoll. Als abstrahierte Abbildungen geben sie zwar vage Hinweise für ihre Lektüre, entziehen sich jedoch im gleichen Moment einer genaueren Einordnung. Nur mit einer ausgiebigen Recherche kann der Zuschauer die Fotos in ihre Kontexte einordnen. In diesem Sinne bebildern sie eine unheimliche Wiederkehr des Vergessenen. Nur tritt dieses Unheimliche in der aufgeregten Bilderwelt der Medien-Ära, wo Fotos die Halbwertzeit eines Zeitungstages haben, nicht mit Wucht, sondern mit dem nachhaltigen Understatement einer Phantomerinnerung auf.Für den französischen Simulations-Theoretiker Jean Baudrillard gibt es bekanntlich immer nur eine gute Reproduktion des Realen. Schon die zweite Reproduktion gebe nur noch vor, sich auf das originale Ereignis zu beziehen. Bei den nachfolgenden Bildern handele es sich nur noch um Simulakren des Realen, um Wahrheiten aus zweiter Hand. Die Wirklichkeit, so Baudrillard mit weisem Nicken zu den Mechanismen des Medienzeitalters, sei so lediglich zum Ort der Nostalgie geworden. Thomas Demands Arbeiten erscheinen vor diesem Hintergrund fast wie Bemühungen, diese Reproduktionsschichten der Bilder wieder zu entfernen, die Essenz des Wirklichen zu rekonstruieren und die Wahrheit in der Bilderflut wiederzufinden. Doch was er an diesem Ort tatsächlich findet, ist der unwiederbringliche Verlust der Wahrheit.Demands Arbeiten legen nahe, dass es keinen Ort der Unschuld mehr gibt. Die Simulakren-Bilder haben die Deutungshoheit über das Reale schon lange übernommen. Viele unserer Erfahrungen führen sich auf Erinnerungen von Medienbildern zurück, für deren Echtheit wir nicht bürgen können. Demand - und das ohne Computerhilfe, Photoshop und Digitalfotografie - zeigt nicht nur, dass diese Medienbilder schon lange nicht mehr vom Wirklichen trennbar sind, sondern dass sie auch unsere Erinnerungen, Gefühle und Erfahrungen formen und delikate Verbindungen mit unserem Unbewussten eingehen. Das Wesen der Fotografie, so ließe sich vermuten, ist schon lange nicht mehr ihre kronzeugenhafte Beziehung zur Wirklichkeit. Vielmehr ist sie zum Spieler mit einer Eigendynamik geworden, deren Folgen für die Wirklichkeit nicht abzusehen sind.Thomas Demand. The Museum of Modern Art, 11 West 53rd Street, New York, NY, www.moma.org. Noch bis zum 30. Mai 2005. Katalog 39.95 $
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