Casablanca im 6/8-Takt

Tourtagebuch III Bernadette La Hengst schmettert ihre Songs von einem Balkon in der Medina
Ausgabe 40/2016

In Casablanca kommt alles in Bewegung. Ich bin erschüttert, verunsichert und erstaunt. Der Dreck in den Gassen der Medina klebt an mir, von den Füßen bis zu den Haarspitzen, die Autoabgase im Stau machen mich müde. Es riecht nach Urin, wie nach einem Schlagermove auf St. Pauli. Die Klebstoff schnüffelnden Bettler schlafen neben Müllbergen, wahrscheinlich haben sie ihren Geruchssinn verloren.

Das Hotel Central mit Blick auf den Hafen ist das älteste Hotel der Stadt, der Cityguide erzählt so viel zur Geschichte und Architektur der Medina, dass mir ganz schwindelig wird. Kultureller Reichtum und Armut liegen hier nahe beieinander.

In der Theaterschule eines Künstlerpaars erzählt mir der Jazzsänger Yazine von der revolutionären Dichterin und Sängerin Kharboucha, die Anfang des letzten Jahrhunderts die Aufstände gegen die Lehnsherren angeführt hat, und nach der zerschlagenen Revolution vom König lebendig in einer Mauer begraben wurde. Yacine spielt mir eines ihrer Liebeslieder vor, sehr schwierige Rhythmik, aber wunderschön tragische Melodie. Ich antworte mit meiner neuen Liedidee im marokkanischen 6/8: „Ridan inshallah, sa äjido al hob fieh Casablanca. Morgen, wenn Gott will, finde ich eine Liebe in Casablanca.“ Er schreibt sofort eine Strophe dazu und singt wie ein orientalischer Musicalstar. Der politische Slampoet Hamza rappt dazu aus seinem kleinen Notizbüchlein auf eine so seltsam sanfte Weise über die Härte der Stadt, dass ich das Gefühl habe, ich verstehe jedes Wort.

Leider kann ich keine Musikerinnen finden, die Frauen scheinen in der Musikszene so unsichtbar zu sein wie in den Cafés, wo ich als einzige Frau abends Tee trinke.

Als wir mit dem Bus zum Boultek fahren, dem Kulturzentrum für aktuelle Musik, stellt sich uns eine zahnlose Bettlerin in den Weg. Andalus bietet ihr ein spanisches Bonbon an, da verwandelt sie sich in eine Dame, bedankt sich und fliegt tanzend davon. Schönheit im Dreck. Poesie im Stau.

Schüchterne Mädchen

Ich eröffne mein Café Europa auf dem Parkplatz der Shoppingmall Technopark, eine Heavy-Metal-Band spielt mit mir einen marokkanischen Blues. Leider sind die vorbeilaufenden Mädchen etwas schüchtern, dafür spielt Ibrahim mir selbstbewusst seine Indierocksongs vor. Ich erzähle ihm von meiner neuen Songidee, dass ich die Schönheit im Dreck finden will, und schon jammen wir los, er übersetzt auf Französisch und Arabisch, bald ist der Song fertig.

In dem angesagten Club Vertigo, in dem wir einen irren zehnköpfigen Männerchor in Frauenkleidern gesehen haben, spiele ich mit Yacine, Hamza und Ibrahim ein mitreißendes Konzert, und mir wird bewusst, dass meine Zeit hier bald zu Ende geht. Allmählich habe ich mich an das Chaos gewöhnt und traue mich alleine durch die Stadt zu laufen, die Angst vor dem Fremden hat sich in Vertrautheit verwandelt.

Am letzten Tag kann ich meinen Traum wahr machen und mit den Jungs ein paar Songs vom Balkon unseres Hotels auf den Place Mohamed El Bidaoui schmettern. Die Zigarettenverkäufer und Kinder sind begeistert und unsere Casablanca-Hymne schallt über die Dächer bis runter zum Hafen. Ich bin verliebt in diese einzigartige Stadt und beschließe, bald wiederzukommen, um die Musikerinnen zu suchen, die ich nicht fand.

Bernadette La Hengst reiste mit ihrem mobilen Café Europa von Madrid nach Casablanca, um Liebeslieder Fremder aufzunehmen. Gefördert wurde die Tour von Sound Development City

Tourtagebücher

Alle Berichte von Bernadette La Hengst:
Tourtagebuch I
Tourtagebuch II

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