Chance in der Diaspora

Im Gespräch Marc H. Ellis, Direktor des Zentrums für Amerikanische und Jüdische Studien an der Baylor University in Waco/ Texas, über jüdische Ethik im israelisch-palästinensischen Konflikt

Professor Marc H. Ellis entwickelt die Vision eines Judentums, das sich bewusst zu einem ethischen Leben bekennt und auf dem Prinzip von Gerechtigkeit und Gemeinschaft beruht - dem traditionellen Fundament jüdischen Glaubens. Nur wenn die Juden zu diesem Credo zurück fänden, das der militarisierte Staat Israel und das verbündete Establishment in Amerika verloren hätten, so Ellis, könne es Hoffnung auf Frieden geben. Zuletzt erschien von ihm 2003 Israel and Palestine: Out of the Ashes, The Search for Jewish Identity in the 21st Century. (Israel und Palästina: Aus der Asche erstanden).

FREITAG: Was ist gemeint, wenn Sie von "Juden mit Gewissen" sprechen?
MARC H. ELLIS: Ich meine Juden, die sich weigern, die Enteignung eines anderen Volkes - derzeit der Palästinenser - anzuerkennen und die Ungerechtigkeit zu begreifen, die im Namen der jüdischen Geschichte ausgeübt wird. Ich kämpfe daher gegen die Vorstellung eines "konstantinischen Judentums", das unsere Führer in Amerika und Israel erfasst hat. Es handelt sich hier um eine Form des Judentums, die dem konstantinischen Christentum ähnelt und der Idee von Staat und Macht anhängt.

Wenn die Juden mit dem Holocaust so unendliches Leid erlitten haben, wie können sie dann heute die Unterdrücker eines anderen Volkes sein?
Eine gute Frage, auf die es keine Antwort zu geben scheint. Ich nähere mich ihr mit einer Tatsache, die besagt: Als Juden unterdrücken wir ein anderes Volk und vertiefen dadurch zugleich unsere eigenen Wunden. Wir Juden können nicht von unserem Trauma geheilt werden, indem wir anderen Menschen Leid zufügen. Anstatt die Frage zu beantworten, möchte ich den Kreislauf der Gewalt beenden, so dass wir andere Fragen in einem neuen, friedlichen Kontext stellen können. Doch dieser Kreislauf der Gewalt kann nur mit der Gründung und Bevollmächtigung eines palästinensischen Staates beendet werden.

Liegt im Ende der südafrikanischen Apartheid eine Lektion für Israel?
Ich weiß nicht, ob es eine solche Lektion gibt. Ich weiß aber, dass wir eine Apartheidsituation geschaffen haben. Die Apartheid in Südafrika ist vorbei, die in Israel wird es noch lange geben. Wann genau und wie sie beendet werden kann - das geht wohl über meine Lebenszeit hinaus.

Wie ließen sich denn die Lebensbedingungen zwischen Israelis und Palästinensern ändern?
Juden und Palästinenser mit Gewissen - in Israel und anderswo - sollten sich zusammentun. Es wird eine lange Wegstrecke zurückzulegen sein, weit über die nächsten Jahrzehnte hinaus. Aber das ist es wert. Vor allem in der Diaspora haben Juden und Palästinenser die Gelegenheit, sich selbst und anderen zu zeigen, dass ein rassistisch und kulturell motivierter Fanatismus kontextuell bedingt ist, und dass Menschen verschiedenster Herkunft dort, wo dieser negative Kontext nicht mehr existiert, friedlich zusammenleben können. Es gibt keinen anderen Weg, dies zu zeigen, als ihn selbst zu schaffen.

Was bedeutet es, wenn Sie sagen, die Ungerechtigkeit gegenüber den Palästinensern habe auch die jüdische Identität verändert?
Ich meine damit, dass es auf lange Sicht keinen Grund gibt, jüdisch zu sein, wenn dies nicht für ein ethisches System steht, das uns von anderen unterscheidet.

Sehen Sie denn überhaupt Chancen für einen Wandel in der Einstellung der Juden zu den Palästinensern?
Als Kollektiv betrachtet, werden die Juden ihre Sicht auf die Palästinenser wohl nicht verändern. Das dürfte ihnen als aussichtsloses Unterfangen erscheinen. Die "Juden mit Gewissen" sind da anderer Meinung. Ob daraus allerdings jemals eine politische Kraft wird, ist eine andere Frage. Sollten sich die Kräfteverhältnisse zwischen Israel und den Palästinensern oder der arabischen Welt überhaupt ändern oder sollten die USA ihre Interessen durch die kontinuierliche Expansion Israels bedroht sehen, wäre man möglicherweise zum Umdenken gezwungen. Ich gehe aber nicht davon aus, dass dies tatsächlich geschieht - zumindest nicht in naher Zukunft.

Das Gespräch führte Andrea Bistrich


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