Chaos, Stress und Leidenschaft: Unsere Autoren erzählen von ihren Bahn-Reisen

Mobilität Das Gespräch muss nur auf die Bahn kommen in diesen Tagen – und sofort sprudeln die Anekdoten von Chaos, Stress und Leidenschaft. So war es auch in der „Freitag“-Redaktion
Ausgabe 34/2022
Chaos, Stress und Leidenschaft: Unsere Autoren erzählen von ihren Bahn-Reisen

Illustration: der Freitag; Material: Zydesign/iStock, Vectorpocket/Freepix

Nicht mit meiner Oma!

Dorian Baganz, Redakteur Grünes Wissen

Man fragt sich schon, warum ein „Feuerwehreinsatz in Rheda-Wiedenbrück“ einen Zug aufhält, der vom Ruhrgebiet nach Berlin unterwegs ist. Die Stadt liegt auf der Strecke, gut, aber die Deutsche Bahn sagt einem nicht, ob der Feuerwehreinsatz auf den Gleisen stattfindet oder mitten in der Stadt. Im maximal verspäteten Zug meiner Familie auf dem Weg zu mir in die Hauptstadt wurde ein solcher Feuerwehreinsatz kürzlich als Begründung für die Verspätung geliefert. Ob es tatsächlich im Bahnhof der Stadt brannte oder im Wiedenbrücker Radio- und Telefonmuseum? Hat die Bahn nicht verraten.

In Hannover dann das nächste Problem: „fehlende Fahrplanunterlagen“. Da schwingt direkt die Botschaft mit, dass die Zugführer selbst gar nicht wissen, wo es hingeht: Berlin, Hamburg, Ostseebad Binz – hallo, wo lang? Meine These: Die Bahn hat eine Liste mit vorgefertigten Ausreden für Verfehlungen jeder Art – „verspätete Bereitstellung des Zuges“, „erhöhtes Reiseaufkommen“, „Signalstörung“, „Verzögerungen im Betriebsablauf“, „Notarzteinsatz“ –, da kann sich der Zugführer dann nach Belieben was rauspicken. Wie oft sind wirklich „Personen oder Tiere im Gleis“? Wer ohnehin schon mit Verschwörungstheorien kokettiert, wird durch das Begründungsmanagement der Bahn zum Querdenker.

Ich stand abends lange an Gleis 11 des Hauptbahnhofs in Berlin und wartete. Dann der Anruf meiner Schwester: „Der Zug wird nicht anhalten.“ Schon rauschte der ICE an mir vorbei. Begründung? „Eine Anordnung der Berliner Polizei.“ Tatsächlich war die ganze Zeit, während ich wartete, eine Durchsage ertönt: „Bitte das unbeaufsichtigte Gepäckstück auf Gleis 11 abholen!“ Aber nur weil irgendein Depp seinen Koffer am Gleis vergessen hat, muss meine Oma mit ihren 85 Jahren jetzt bis zum Ostbahnhof durchfahren? Hatte sie heute nicht genug gelitten, als die Koppelung des Zuges in Hamm sich ewig verzögerte? Auf der anderen Seite: Was, wenn es der Koffer-Depp mit einer Bombe auf meine Oma abgesehen hatte ...?

Fanta-Schorle literweise

Christine Käppeler, Ressortleiterin Kultur

In einer Folge der TV-Serie Eine Möhre für Zwei möchten Wolle (ein Schaf) und sein Freund Pferd an die Ostsee. Aber dann ist ihr Möhrtorrad kaputt und sie fahren das erste Mal in ihrem Leben mit der Bahn. Erst läuft es nicht so gut – kein Ticket gekauft, uff –, aber im Bordrestaurant gibt es Nudeln mit Tomatensoße für 3,99 Euro und der Zugchef lässt sie Durchsagen machen. Bald finden sie es im Zug so schön, dass sie noch viermal zwischen Travemünde und Hamburg hin- und herfahren. Als Nächstes überlegen sie, mit der Bahn nach China zu fahren. Falls Ulf Poschardt mal wieder Beispiele für den Grünen-Bias der ARD sucht – die Folge heißt Zugfieber und steht in der Mediathek.

Jedenfalls reisten wir mit einem Kleinkind, das eine hohe Meinung von der Bahn hat. Nicht nach Travemünde, nicht nach China, sondern nach Marseille. Was viele verrückt genug fanden, denn die reguläre Fahrzeit von dort nach Berlin beträgt gut zwölf Stunden. Die Hinfahrt, dachten wir, wird vergleichsweise easy, denn losgehen sollte es in Mannheim. Aber kurz vor der Einfahrt des ICE nach Straßburg verschwand dieser. „Fällt aus“, stand lapidar, wo eben noch zehn Minuten Verspätung angekündigt worden waren. Von der nächsten Verbindung mit fünf Minuten Umsteigezeit am Flughafen in Paris riet uns die Frau vom Servicepoint dringend ab und empfahl den direkten TGV in drei Stunden. Also saßen wir drei Stunden lang – unberechtigt durchgewunken – in der „DB Lounge“ und hielten die Stimmung mit Fanta-Schorle in zunehmender Verdünnung halbwegs stabil. Und dann lief einfach alles glatt. Im TGV waren noch genau zwei Plätze frei, so weich und breit und bequem, dass sie locker für drei ausreichten. Wir kamen mit nur zwei Stunden Verspätung an, was aber genügte, um die Hälfte des Fahrpreises erstattet zu bekommen. Auch von der Rückfahrt gibt es nichts Negatives zu berichten. Oder doch: Die Nudeln mit veganer Bolognese kosten im ICE 8,90 Euro. Dafür bekommt man aber ein Getränk, Fruchtmatsch aus der Tube, Schokolade und einen Spielzeugzug dazu.

Zu Fuß um den Schliersee

Lisa Kolbe, Artdirektorin

Wir können Ihnen leider nicht sagen, ob oder wann heute aus Fischhausen nach München noch ein Zug verkehrt“: Nach einer Ewigkeit in der Warteschlange wenigstens endlich diese Ansage. Dann vielleicht einfach das Taxi zur nächsten Station nach Schliersee nehmen? Von dort soll die Bahn wieder regulär fahren. Keine Chance: Bei den drei lokalen Taxiunternehmen in der Alpenregion Tegernsee sind aufgrund des Zugausfalls alle Fahrzeuge im Einsatz. Kindersitz gibt es sowieso erst ab drei Jahren. Auch der Bus nach Schliersee verlässt gerade den Bahnhof, als auf der Anzeige über den Zugausfall informiert wird. Der nächste Bus kommt in anderthalb Stunden. Öffentlicher Nahverkehr at its best. Falls wir also heute noch nach München und dann weiter nach Berlin kommen wollen, müssen wir irgendwie anders nach Schliersee gelangen.

Google Maps sagt, zu Fuß dauert es 48 Minuten, vier Kilometer. In 50 Minuten fährt von hier der nächste Zug nach München. Also, dann wird mal stramm losmarschiert – wir sind nach unseren Bergtouren ja in bester Form: Kinderwagen mit Kleinkind plus Wickeltasche, eine Kraxe, ein Reiserucksack, zwei kleine Trolleys, zwei Eltern. Einmal den ganzen Schliersee umrunden. Klar, jetzt fängt es an zu regnen, ganz feiner Nieselregen, er pikt in den Augen. 27 Grad Außentemperatur, in der Regenjacke wird’s schnell warm. Aber es muss weitergehen. Die Stimmung sinkt, das Kind nölt. Wir bestechen es mit Süßigkeiten und dem letzten Quetschie. Total erschöpft erreichen wir den Bahnhof. Der Zug fährt ein – es ist der aus Fischhausen! Er fuhr wohl doch wieder ganz regulär.

Den ICE in München haben wir verpasst – die Reservierung im Kleinkindabteil ist verfallen. Wir haben Glück, ergattern die zwei letzten Sitzplätze im Familienbereich des nächsten Zuges. Die Reservierungsanzeige ist defekt – vier Stunden bangen wir, dass wir doch noch im Gang stehen müssen. Immerhin erstattet uns die Bahn ein Viertel des Fahrpreises. Acht Euro Reservierungskosten hingegen sind futsch.

Finde den Bahnsteig

Velten Schäfer, Redakteur Debatte

Viel Hitze, viel Kind und viel Kegel: Dass der Regionalexpress vom Bodensee nach Offenburg durch 40 Minuten Ersatzverkehr unterbrochen wird, ist das eine. Die Schwarzwaldbahn muss gewartet werden. Das andere spricht sich unter denen, die in Hausach aus dem überfüllten Bus mit mangelnder Gepäckkapazität stolpern, allmählich herum: Die zweite Hälfte der RE-Verbindung zur Rheinstrecke entfällt, wohl wegen eines plötzlichen Personalengpasses.

Auf also in die „Ortenau-S-Bahn“, einen Triebwagen, der eine halbe Stunde später fährt – allerdings auf Gleis 2. Man flucht und schwitzt, denn in Hausach gibt es weder Rampe noch Aufzug. Gerade hat auch die ältere Dame mit dem lädierten Arm stöhnend die Treppe bewältigt, da spricht sich herum: Kommando zurück – heute auf Gleis 1.

Erstaunliche drei Viertel der Wartenden pressen sich später in das Bähnchen. Dem Vernehmen nach hatte das Hin und Her immerhin einen guten Grund: Ein Passagier im Rollstuhl hätte sonst keine Chance gehabt. Das erfüllt einige im Zug mit Wärme. Die anderen werden an jeder Milchkanne, an der das Züglein hält, nervöser. Erst kurz vor Offenburg macht sich Erleichterung breit: Kein Grund zur Hetze, denn auch der Anschluss-ICE nach Frankfurt am Main und Berlin fährt nicht. Der Ausfall ist Glück im Unglück. Denn wo das Ortenau-Bähnchen ankommt, ist der Fahrstuhl defekt. In Eile hätte man da nicht hinuntergewollt. Zwei Stunden später lässt sich per App etwas buchen, wenn auch nicht im Familienbereich. Das haben unsere Mitreisenden jetzt davon.

Die Halle in Offenburg ist kühl, der Kiosk bewirtschaftet. Kurze Schrecksekunde, als ein weiterer Zugausfall angekündigt wird, doch das betrifft den RE nach Karlsruhe. Dann essen wir Eis, etwas Entspannung. Die Reiselaune kehrt als Galgenhumor zurück. Noch um Mitternacht, als wir mit drei Stunden Verspätung Berlin erreichen, müssen wir über den DB-Gag dieses Tages schmunzeln, den gab’s in Hausach auf der Anzeigetafel: „Zug entfällt, bitte informieren Sie sich.“

Mit Kuchen im Tunnel

Ulrike Baureithel, Autorin Politik

Einmal im Jahr führt uns der Weg vom Berliner Süden in den Norden, zu einer Geburtstagsfeier kurz vor Bernau. Gelegenheit, zu staunen, wie groß die Stadt ist und wie sie feisten Speck ansetzt. Normalerweise erreicht man Zepernick mit der S-Bahn in gut einer Stunde. Die aber drohte uns schon vorab mit dem Berlinern wohlbekannten Kürzel SEV, über eine weite Strecke. An besagtem Samstag Ende Juli entschließen wir uns also, den Schienenersatzverkehr mit der Regionalbahn clever zu umgehen. Der Plan: nach Bernau, von dort mit dem Bus zurück nach Schönow. Vor Berlin-Gesundbrunnen die Meldung, dass der RB 66 ausfällt, Personalmangel. Also ab zum Südkreuz, zum RE 3, in der Hoffnung, dass alle Berlinflüchter bereits in der Ostsee baden, bei über 30 Grad. Falsch gedacht: drangvolle Enge, Fahrräder.

Bis zum Hauptbahnhof geht alles gut. Doch kaum sind wir im Tunnel: Stillstand. „In wenigen Minuten Weiterfahrt“, verkündet der Schaffner neben uns noch wohlgemut. Die „Bodentruppen“, die sich im Gang und auf Treppen verteilt haben, wirken friedlich, auch die Klimaanlage funktioniert. Im Tunnel kein Netz. Die Minuten verrinnen. Null Info. Um uns herum werden Witze gerissen.

Nach einer halben Stunde versagt auch die Elektrik, kein Licht, keine Kühlung mehr, es wird stickig. Ich bange um meine Kuchen, sehe mich schon Notrationen verteilen, wenn das hier länger geht. Plötzlich Tumult. Vom hinteren Zugteil kämpfen sich Leute zum Schaffner vor, er möge die Türen öffnen. Im Tunnel?! Nein, offenbar steht der hintere Waggon noch im Bahnhof. Die Leute wollen raus, klar. No way, sagt der bedrängte Zugbegleiter. Jetzt fürchten wir um ihn, ich habe den Bericht über Gewaltexzesse gegenüber Bahnbediensteten auf den Knien. Es ist dunkel, wir schwitzen. Nach über einer Stunde erwacht der Zug zu Leben, verströmt Licht und Luft, rollt an. In Bernau angekommen hören wir, dass der verspätete ICE nebenan, Zielort Binz, in Stralsund strandet. Es ist nach 16 Uhr. Die Kaffeerunde wartet. Wo ist der Bus? Boah, nur gut, dass wir nicht nach Rügen wollen!

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