In vier Staaten Lateinamerikas - in Venezuela, Argentinien, Brasilien und Ecuador - kamen seit Ende der neunziger Jahre Mitte-Links-Regierungen zum Zuge. Uruguay wird im Februar mit der Amtseinführung des Präsidenten Tabaré Vasquez (Linksbündnis Frente Amplio) nachziehen (siehe Übersicht S. III). Die betreffenden Staaten bemühen sich mit unterschiedlicher Konsequenz um eine eigenständige Wirtschaftspolitik und mehr nationale Souveränität. Während Venezuela gerade den sozialen Wandel beschleunigt, zeigt das Beispiel des brasilianischen Staatschefs Lula, wie sich Hoffnungen auf einen "anderen Weg" auch enttäuschen lassen. Da der Staat am Amazonas in Porto Alegre erneut Gastgeber des Weltsozialforums ist, dürfte der "neue Realismus der neuen linken Elite" ein Thema für kontroverse Debatten sein.
FREITAG: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, das Weltsozialforum sei inzwischen eine Art linker Kirchentag mit frommen Predigten und empörten Klagen über das Elend in der Welt?
SAHRA WAGENKNECHT: Das darf dieses Treffen jedenfalls nicht werden. Natürlich gibt es immer Bestrebungen - das konnte man jüngst auch in London beim Europäischen Sozialforum sehen -, das Forum für bestimmte politische Richtungen zu vereinnahmen. Aber es sind nach meinem Eindruck nach wie vor sehr viele Kräfte beteiligt, die eine antikapitalistische Überzeugung eint und die aus der Gewissheit nach Porto Alegre gehen: diese Welt lässt sich nur durch den Druck des Protests und starker außerparlamentarischer Bewegungen verändern. Niemand kann sich wünschen, dass eine Bewegung, wie sie mit dem Weltsozialforum entstand, quasi einschläft. Ich fahre jedenfalls mit großer Spannung nach Porto Alegre, denn ich werde erstmals an einem Weltsozialforum teilnehmen. Danach kann ich mir sicher auch ein genaueres Urteil bilden.
Inwieweit kann beispielsweise ein Land wie Venezuela aus diesem Ereignis Sauerstoff für die "Bolivarische Revolution" schöpfen?
Die Venezolaner können in Porto Alegre über ihre Politik das sagen, was von vielen Medien verschwiegen oder tendenziös gefärbt wiedergegeben wird. Soviel ich weiß, wird auch Präsident Chávez zum Weltsozialforum reisen, um sein Land zu vertreten. Dieser Rückhalt, den die Venezolaner dort spüren werden, ist sehr wichtig.
Um bei Hugo Chávez zu bleiben, warum hat er gerade jetzt das Dekret 3408 erlassen, um in Venezuela die bereits 1999 begonnene Agrarreform voranzutreiben?
Es gab schon lange Einigkeit darüber, wie dringlich es ist, diese Reform voranzubringen. In Venezuela ist der Landbesitz sehr konzentriert. Riesige Latifundien sind in den Händen einer sehr kleinen Schicht, die dadurch wirtschaftlich sehr mächtig ist. Zugleich stagniert die Agrarproduktion, so dass ein beachtlicher Teil der Öleinnahmen verbraucht wird, um Lebensmittel zu importieren. Es geht jetzt um zweierlei: für die zum Teil extrem arme Landbevölkerung bessere Lebensbedingungen zu schaffen und die Abhängigkeit von Nahrungsmitteleinfuhren zu vermindern. Chávez hat nach dem Sieg beim Referendum am 15. August 2004 jetzt mehr Rückdeckung, um diese Schritte zu tun.
Was ist anders im Vergleich zu 1999, als Chávez das erste Gesetzespaket für eine Agrarreform vorlegte?
Damals ist vieles in den Gerichtssälen versandet. Die großen Eigentümer haben erfolgreich gegen Enteignungen geklagt und konnten dabei auf den Beistand der alten Eliten - besonders in der Justiz - setzen.
Und damit ist jetzt nicht mehr zu rechnen?
Auf jeden Fall ist die Position des Präsidenten seit dem Referendum erheblich gestärkt. Es sind zudem aus den Regionalwahlen im vergangenen Herbst auch in vielen Provinzen die Chavistas als Sieger hervorgegangen. Es wäre nur schwer möglich, die Landreform in Gebieten durchzusetzen, die von der Opposition regiert werden.
Es gibt meines Wissens inzwischen nur noch eine einzige Provinz, die von einem Gouverneur der oppositionellen "Coordinadora Democrática" geführt wird ...
... und das war bis zum Herbst 2004 anders.
Im August 2004 beim Referendum über eine mögliche Amtsenthebung von Chávez sind rund drei Millionen Venezolaner mehr zu den Wahlurnen gegangen als 2000 bei der letzten Präsidentschaftswahl. Wie ist diese immense Politisierung zu erklären?
Ich habe am Tag der Abstimmung in Caracas die Schlangen vor den Wahllokalen gesehen. Es kamen so viele Leute, um ihr Votum abzugeben, wie offenbar noch nie in Venezuela gewählt hatten. Ich glaube, ein entscheidender Grund für diesen Ansturm unter den ärmeren Bevölkerungsschichten war das Gefühl, dass sie im Fall von Chávez´ Sturz viel verlieren würden, weil er Veränderungen bewirkt hat, die zu verteidigen lohnt.
Die Regierung hat außerdem stets darauf geachtet, mit der Bevölkerung über soziale Fragen oder die Chancen der Bolivarischen Revolution zu diskutieren, nach Möglichkeit jeden einzubeziehen. Dadurch ist eine partizipative Demokratie entstanden, die gerade die Ärmeren, die bisher immer gedemütigt wurden, ernst nimmt und mitentscheiden lässt. Und wer mitentscheiden kann, der beginnt über Probleme nachzudenken und wird nicht von dem Gefühl beherrscht, sowieso nichts ändern zu können.
Das steht in einem gewissen Kontrast zur Politikverdrossenheit vielerorts in Europa ...
.... besonders in Deutschland. Man kann heute in Venezuela mit einfachen Leuten über Politik und Ökonomie diskutieren, wie das hierzulande bestenfalls mit Studenten an einer Universität möglich ist. Das ist nicht zuletzt auch den Bildungsprogrammen der Regierung zu verdanken.
Die gab es - denkt man etwa an die Alphabetisierung oder an die Agrarreform - Anfang der achtziger Jahre während der sandinistischen Revolution in Nikaragua auch. Doch sind die Comandantes dort letzten Endes gescheitert und wurden Anfang 1990 abgewählt. Brauchen sozialreformerische Umbrüche in Lateinamerika ein solches ökonomisches Potenzial wie es der Erdölexporteur Venezuela aufbietet, um erfolgreich zu sein?
Selbstverständlich hat es ein Land mit den Ressourcen Venezuelas leichter. Aber es gibt momentan in mehreren lateinamerikanischen Ländern einen Aufbruch, eine Suche nach Alternativen. Möglicherweise befördert auch diese Gleichzeitigkeit den sozialen Wandel. Man sollte bei Nikaragua nicht vergessen, wie die Perspektiven, die durchaus vorhanden waren, zerstört wurden: in einem Bürgerkrieg, der von den durch die damalige Reagan-Administration gesteuerten Contras ausging.
Das Wahlergebnis gegen die Sandinisten im Februar 1990 kam auch unter dem Druck zustande, dass man einfach in Frieden leben wollte. In Venezuela haben die Kräfte, die auf Bürgerkrieg gesetzt haben - und die gab es und gibt es noch -, bisher zum Glück nie eine solche Basis gefunden, um tatsächlich und dauerhaft Chaos und Verderben im Lande provozieren zu können.
Inwieweit profitieren Staaten mit linken Regierungen wie Venezuela oder Uruguay, demnächst mit dem neuen Präsidenten Tabaré Vazquez, derzeit davon, dass sich die USA dank des Irak-Krieges, aber auch wegen anderer Konflikte, nicht in gewohnter Weise um Lateinamerika kümmern können?
Es klingt immer ein bisschen zynisch zu sagen, sie profitieren davon. Aber faktisch ist es schon so: Wenn im Irak der Widerstand nicht so stark wäre, und die USA dort nicht riesige Probleme hätten, würden sie - mindestens politisch, vielleicht aber auch mit anderen Mitteln - längst stärker intervenieren. Es existierten durchaus Pläne, Chávez zu stürzen. Inzwischen wird der amerikanische Beistand für den Putschversuch im April 2002 kaum noch bestritten. Ihr Ziel haben die USA auch heute nicht aufgegeben.
Das Gespräch führte Lutz Herden
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