Kein schlechter Plan: ein System stoppen, das Hunderttausende Griechen in die Armut getrieben hat
Foto: Louisa Gouliamaki/AFP/Getty Images
Frenetisch jubeln die Zuhörer, sie schwenken Fähnchen und bewerfen sich mit Konfetti. Durch Sprechchöre feiern im Zentrum Athens Zehntausende ihren Kandidaten wie einen Erlöser. Am Himmel explodieren Feuerwerkskörper. Überall hängen Parteibanner – an Gebäuden, Bäumen und Laternen. Aus Lautsprechern scheppert Musik. Es herrscht eine Stimmung wie auf einem Pop-Festival. Plötzlich braust ein Jubelschrei durch die Menge. Der mit schäumender Euphorie bedachte Politiker tritt ans Rednerpult. Was er seinem Auditorium zuruft, klingt wie eine Verheißung: „I Megali Allaghi“, der große Wandel steht an, alles wendet sich zum Guten. So klingt das ewige Wahlversprechen dieses Landes. Wird es ausgesprochen, folgen minutenl
enlange Sprechchöre. Die Menge lässt ihren Heroen hochleben. Ein Freudentaumel ergreift die Menschen, wie Sieger recken sie die Arme in die Höhe.Jahrzehntelang sahen Wahlkämpfe in Griechenland so oder so ähnlich aus. Wenig ist davon im Griechenland des Jahres 2015 übrig geblieben. Heute besuchen oft nur noch die ganz Unerschrockenen Wahlmeetings der durch die großen Städte wie Provinzorte ziehenden Bewerber der 22 Parteien und Bündnisse, die am 25. Januar genügend Stimmen für einen Einzug ins Athener Parlament erringen wollen.Placeholder infobox-1Eine Mehrheit der Menschen sieht diese Neuwahlen mit Skepsis. Das Votum sei den Bürgern aufgezwungen worden, die politische Elite betrachte sie nur noch als Wahlvieh, „das zu jedem – den Parteien passenden – Zeitpunkt zur Wahlurne gezerrt wird“, meint der Schriftsteller Petros Markaris.Frommes VolkParteiverdrossenheit und Enttäuschung überlagern diese Wahl mehr als eine Wende- und Aufbruchsstimmung. An „Megali Allaghi“, den großen Wandel, den die Politiker tausend Mal versprochen haben und der immer irgendwo versickert ist wie die Gelder aus Brüssel, glaubt kaum noch jemand. Was die Griechen zur Wahl treibt, das sind die schiere Verzweiflung, vage Hoffnungen oder das dringende Verlangen, nach sechs Jahren Rezession und sozialem Aderlass möge sich etwas ändern. Und seien es nur 50 Euro mehr aus der Pensionskasse. Die Bauern wollen eine Rückkehr zu früheren Subventionen, die Hausbesitzer den Verzicht auf Sondersteuern, die Gewerkschafter den Erhalt ihrer Privilegien und die Panhellenischen Jäger das Recht, auch künftig Sperlinge und Hasen schießen zu dürfen.Was sie über Klientel-Interessen hinweg eint: Den von der Regierung wie der Troika aus Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB) und EU-Kommission verkündeten Aufschwung halten die meisten Griechen für reine Fantasie. Sie verweigern sich den Fernsehdebatten von Journalisten und Experten, die täglich darüber streiten, wie der Schuldenberg abzubauen sei. Durch „gestreckte“, „ausgesetzte“ oder „angepasste“ Zinsen? Oder besser einen „Haircut“, den erneuten Schuldenschnitt, wie ihn Syriza will? Theorien und Zahlenkolonnen kann und will niemand mehr folgen. Das wissen auch die Politiker. Also haben sie einen Wahlkampf bevorzugt, in dem der Gegner verleumdet, abgewertet und beschimpft wird. Wahlprogramme spielen keine Rolle, das Programm sind die Parteichefs, besonders Andonis Samaras von der konservativen Nea Dimokratia (ND) und Alexis Tsipras von der Linksallianz Syriza.Dabei erwies sich der bisherige Premierminister als Großmeister der Demagogie. Seinen Auftritt am Grenzzaun zur Türkei hätte selbst die faschistische Goldene Morgenröte (Chrysi Avgi) nicht besser inszenieren können. Er lobte die Grenzbefestigung, sie habe das Land vor Zehntausenden Migranten geschützt. Bestimmte Leute – gemeint ist natürlich Syriza – hätten nichts Besseres zu tun, als den Zaun einzureißen, damit Flüchtlinge ins Land strömen und Sozialleistungen kapern könnten. Mit Vorliebe fischt Samaras im rechtskonservativen Becken. Bei einer Kundgebung griff er auf die Diskussion über eine Säkularisierung zurück: „Verlassen Sie sich darauf – die Ikonen werden nicht abgehängt. Die Griechen sind ein frommes Volk.“Mit ihren Fernsehspots setzt die Nea Dimokratia auf Verunsicherung und Angst. Nur eine Regierung der Mitte garantiere Stabilität und Prosperität, alle anderen Parteien würden lügen und hätten die Absicht, das Land zu zerstören. „Wir sagen die Wahrheit“ heißt es am Ende jedes Spots. Samaras hat Griechenland tief gespalten in „wir“ und „die anderen“. Auch Alexis Tsipras schätzt markige Sprüche. Nicht er werde nach der Pfeife der Märkte tanzen, sondern die Märkte nach seiner, ließ er noch im Dezember wissen. Beifall ist ihm gewiss, wenn er die bisherigen Koalitionäre ND, PASOK und Dimar (Demokratische Linke) als „Handlanger der Troika“ schmäht, die es verdient hätten, vor Gericht zu stehen.Syriza will die Renten wie die Bezüge der Beamten anheben, die gerade eingeführte Immobilien-Sondersteuer abschaffen und Staatsbedienstete wieder einstellen, von denen allein mit dem Sparpaket vom 28. April 2013 mehr als 10.000 entlassen wurden. Zum ersten Mal in der Geschichte Griechenlands wirbt eine Partei auch damit, was sie garantiert nicht zu tun beabsichtigt – den Euroraum zu verlassen. Zu groß ist die Furcht der Bevölkerung vor einem „Grexit“, zu ungewiss die Zukunft, zu drakonisch die Diffamierungskampagne von Samaras und manchem EU-Partner.Fiese OligarchenWenn Alexis Tsipras nur ein Viertel von dem umsetzt, was er verspricht, hat Syriza es verdient, an die Macht zu kommen, so die einhellige Meinung sehr vieler Griechen. Schlimmer und deprimierender könne es nicht mehr werden. Warum sollte Syriza kein Recht auf einen (großen) Wurf haben? Das heißt auch, wer für das Linksbündnis stimmt, muss nicht dessen Programm teilen oder sich für die Idee von Tsipras erwärmen, einen europäischen Schuldenkongress nach dem Muster der Londoner Konferenz von 1952/53 abzuhalten. Die hatte seinerzeit Schulden wie Reparationen der Bundesrepublik Deutschland weitgehend annulliert beziehungsweise fällige Zahlungen einem späteren Friedensvertrag überlassen, den es freilich nie geben sollte. Dass die gut betuchten Griechen ein solches Projekt mit Desinteresse quittieren, überrascht nicht weiter. Sie trennen glasklar zwischen den Staats- und den eigenen Schulden, obgleich ihr Wohlstand oft jahrzehntelanger Steuerhinterziehung – sprich: dem Betrügen des Staates – zu verdanken ist.Tsipras beteuert, die Oligarchen entmachten und den sie umgebenden staatlichen Filz auflösen zu wollen. Das würde bedeuten, mit einem seit der Staatsgründung von 1830 üblichen Klientelismus zu brechen, der in den Köpfen so tief verankert ist. Wie soll das gelingen, wenn jede Regierung in Athen bei allem, was sie tut, befürchten muss, den Staatsbankrott zu riskieren? „I Megali Allaghi“, der große Wandel, wird er auch diesmal ausbleiben?Placeholder link-1Placeholder authorbio-1
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