Alle Straßen Frankreichs führen nach Paris. Sie sind Orte des Aufbruchs ins Abenteuer, von der Hauptstadt hinaus in die Provinz, und Orte der Heimkehr in die Kapitale. Als die Tour de France vor 100 Jahren begründet wurde, war das Radfahren auf den Straßen die größte technische Errungenschaft für die einfachen Leute. Das Rad als Privatbesitz öffnete die Städte, machte die Fahrt ins weite Land allein mit der Kraft der Muskeln möglich. Draußen breitete sich la douce France vor den pédaleurs aus.
Die Tour ist bis heute eine Sache der Freiheit, des Fahrrads als dem Besitz der kleinen Leute und des außergewöhnlich reizvollen Wesens, das Frankreich ist. La France, wie sie mit ihrem vielfältigen Charme daliegt, stellt die a
me daliegt, stellt die aus Paris aufbrechenden Männer vor eine Reihe schwierigster Aufgaben. Ihre Schönheit ist trügerisch - jede Region verlangt von den Fahrern das Äußerste: die "Hölle des Nordens", die windigen Ebenen in der Nähe des Atlantiks, auf denen ein höllisches Tempo gefahren wird, der kahle Mont Ventoux, der Aufstieg auf die hohen Pässe der Pyrenäen und Alpen, der den Fahrern nicht die schöne Aussicht schenkt, sondern eine mörderische Pedalarbeit und eine Abfahrt in schwindelerregendem Tempo durch die engen Serpentinen.Die Belohnung für den Ersten ist ein frisches Hemd, gelb wie die Sonne, die Farbe des Königtums. Die Einkleidung in das tricot jaune ist wie die Investitur in eine Herrschaft für einen Tag, deren Triumph durch die Küsse der lokalen Schönheitsköniginnen besiegelt wird. In der Tour ist alles präsent, was die Phantasie Frankreichs seit dem Mittelalter entzündet hat: Aufbrechen ins Abenteuer, Männerkonkurrenz, Frauendienst, Triumph über den Schmerz. Durch das Territorium Frankreichs ziehen Männertrupps unter ihren Anführern, die von bedingungslos folgenden Vasallen unterstützt und beschützt werden. Sie kämpfen gegeneinander, aber auch gegen die widerborstige physische Geographie des Landes. Einmal im Jahr, um den Nationalfeiertag herum, reißt das Spektakel der Männer auf blinkenden Maschinen und mit glänzenden Muskeln das ländliche Frankreich aus seiner beschaulichen Langeweile.Von ihrem Beginn an war die Tour weit mehr als ein sportliches Geschehen; sie gehört zu dem, was das Innere Frankreichs ausmacht. Die Deutung der Nation von sich selbst wird hier zu einem dramatischen Geschehen geformt. Ihr Ausgangspunkt sind zwei Bewegungen: der Aufbruch in die Provinz und die Fahrt nach Paris. In der Hauptstadt wird seit eh und je der Traum von der Rückkehr aufs Land geträumt, von dem sie alle kommen. Die andere Bewegung ist die Fahrt nach Paris; sie ruft den anderen Traum in Erinnerung, den alle träumten, die sich eines Tages dem Zug in die Kapitale angeschlossen haben, la montée à Paris. Dies ist der Fundus der fiktiven Helden aus der französischen Literatur, von den fahrenden Rittern über Balzacs Glücksritter aus den fernen Provinzen bis zu Aragons Bauer von Paris.Die Tour de France schöpft in jeder Epoche neu aus dem großen Reservoir der nationalen Erinnerungen, die von Romanen und Filmen zu exemplarischen Figuren geformt worden sind. Und umgekehrt sind es die Helden der Tour, die die Geschichten aus den Büchern und den Kinos wieder lebendig machen und der Vergangenheit sinnliche Präsenz geben. In jeder Epoche sind es unterschiedliche Geschichten und Charaktere, die das Publikum im Geschehen der Tour entdeckt. In den ersten Jahrzehnten war es ein heroischer kleiner Trupp, der an den äußersten Rändern des Landes entlang fuhr, als wollten sie das Territorium der Nation markieren. Nachdem die Volksfront-Regierung 1936 den bezahlten Urlaub eingeführt hatte, konnte die Tour als Fahrt in die Ferien verstanden werden. Heute kreuzen sich die Touristenströme und die Tour-Karawane auf den hoffnungslos überlasteten Verkehrsstraßen und rufen gemeinsam gigantische Staus hervor, die im Frankreich der Gegenwart das erste Ferienerlebnis darstellen.Wie kein anderes Ereignis markiert die Tour den Jahreskalender der Franzosen. Es sind Ferien, die Pariser haben die Stadt verlassen, es gibt nichts zu tun; jedes Jahr kommt das Arbeitsleben in dieser Zeit zum Erliegen. Die Zuschauer an den Straßenrändern sind die Stellvertreter für die vielen, die zu Hause oder in ihren Ferienwohnungen im Fernsehen das Rennen verfolgen. Die Männer sind unter sich, tagträumend ihren Phantasien hingegeben. Die Frauen und die Kinder sind am Strand, die Übertragung beginnt, die Füße werden hochgelegt, in der Garage steht das Rennrad bereit für eine kleine Spritztour danach. In der Welt der Tagträumer verbindet sich die Poesie des großen Zugs auf der Landstraße mit der Faszination für Technik und Geschwindigkeit.Von Anfang an waren alle wichtigen neuen Technologien an der Tour beteiligt: die Eisenbahn, die Fotografie, der Film, das Auto und die Massenpresse, die das Ereignis erfunden hatte. Die Tour ist weit entfernt von den Fahrten der Wandervögel auf der anderen Seite des Rheins, die zur gleichen Zeit singend aus den Städten hinauszogen und eine Erneuerung der Kultur aus den Quellen der Tradition suchten. Die Tour ist mit allen ihren Facetten diesseitig, mit dem Interesse am Geldverdienen, an Ruhm, Bekanntheit und Darstellung von Männlichkeit, mit der gnadenlosen Konkurrenz, der Erschleichung von Vorteilen, dem Doping, das seit langem zu ihrer Geschichte gehört. Aber diese Banalität des Materiellen wird überhöht, ins Immaterielle gewendet durch den Wunsch, zum Helden zu werden. Es gibt keine bessere Gelegenheit als die Tour, sich ins nationale Gedächtnis einzuschreiben.Die Tour erhält ihre Größe durch eine seltsame Neigung zur Anstrengung und zum Leiden. Von außen betrachtet traut man beide dem Land der Lebensfreude nicht zu. Wer das Land kennt, weiß, dass die Mühe, l´effort, die andere Seite der französischen Kultur ist. Man findet ihre Darstellung in der Literatur, in der Welt von Balzacs Rastignac, Maupassants Kleinbürgertum, Zolas Familie Rougon-Macquart. Was im französischen Alltagsleben verkniffen, unfrei und von übler Gewöhnlichkeit erscheint, wird in der Tour in eine interesselose Anstrengung um des Ruhmes willen umgestaltet. Hier ist es nicht mehr der mit Entbehrungen und Schmerzen bezahlte soziale Aufstieg, sondern ein am römischen Ideal orientiertes Leiden aus idealistischen Motiven. Die aus der Revolution hervorgegangene französische Republik hatte sich Rom zum Vorbild gewählt - ihr Held ist der unendlich leidensfähige Krieger, der sein Leiden einer idealen Sache weiht. In der Tour kehrt dieses heroische Leiden im Modus des Spiels zurück.Im Zentrum der Tour steht die Idee des Leidens, hervorgerufen von der Schwere der großen Aufgaben, die der Rundkurs den Fahrern stellt. Bis heute ist die Größe des Leidens Gradmesser einer gelungenen Tour. Nur diejenigen sind große Helden der Tour geworden, die ihr Leiden vor aller Öffentlichkeit in einem das Publikum zufriedenstellenden Ausmaß bewiesen haben. Alle Großen haben dies auf unvergessliche Weise getan, als Ausreißer auf einer der mörderischen Bergetappen oder in der Einsamkeit beim Rennen gegen die Uhr. Der Held entsteht nicht durch seine Überlegenheit allein, sondern durch die Demonstration seiner Leidensfähigkeit.Diese Passion des Leidens macht im Urteil der Nation über sich selbst ihre Leistungsfähigkeit aus; sie gilt als das Fundament ihrer glänzenden Seiten, ihrer Wissenschaft, ihrer Kunst. Selbst wenn die Franzosen ihre Bequemlichkeit und das gute Leben zu schätzen wissen, sind sie in der Hochachtung der Titanen der Leidensfähigkeit erzogen wurden. Auch die Bequemsten unter ihnen, gerade sie, lieben die Demonstration dieser nationalen Tugend in der Tour. Der Wettbewerb um das größte Leiden ist nicht nationalistisch auf die französischen Teilnehmer verengt, sondern ist offen für Fahrer aller Nationen. Wichtig ist nicht, dass der Held Franzose ist, sondern dass sich seine Tat in diesem urfranzösischen Wettbewerb ereignet. Daher konnten die großen Asketen und Leidensfähigen, selbst wenn sie Ausländer waren, problemlos eingemeindet, zu Franzosen ehrenhalber gemacht werden: Fausto Coppi, Eddie Merckx, Greg Lemond, Miguel Indurain. Von Jan Ullrich steht der letzte Beweis noch aus.Eine Tour soll ein Meisterwerk, ein chef d´uvre, nach dem Geschmack der Franzosen werden: große Gesten, Bravourstücke, Einsamkeit, Verzweiflung, Gelingen und Absturz, kurz: große Oper. In der Tour hat die Theatralität Eingang in den Sport gefunden. In diesem pathetischen Werk vor der Kulisse der französischen Landschaft wirkt Leiden ergreifend schön, wie der Tod auf der Opernbühne. Das Volk an den Straßenrändern und am Fernseher, dem symbolischen Straßenrand, ist gekommen, um zu sehen, wie ihr nationaler Schatz an Erzählungen und ihr Fundus opernhafter Gesten Wirklichkeit wird, wirklicher ist als die Oper. Schöner Schein wird nicht geduldet; billigen Siegen wird die Anerkennung verweigert. Das Wirkliche ist hier das Männliche: die Kapitäne müssen führen, das gelbe Trikot muss sich immer wieder von Neuem beweisen, es muss attackieren, die anderen Fahrer kontrollieren, strategische Übersicht und Besonnenheit bewahren, die es im rechten Augenblick die richtige Handlung wählen lässt. Es muss die Tour mit seinem Stempel prägen; sein Name wird zur Epochenbezeichnung. Aus den 100 Jahren der Tour behält man vielleicht 10 bis 15 Namen zurück, die fähig waren, die Geschichte zu Kraftfeldern um ihre Person herum zu gestalten.Keiner dieser großen Helden ist auf der Höhe seines Ruhms abgetreten. Sie alle wollten das Einmalige, Unmögliche, bis sie vom Jäger zum Gejagten wurden und ihren jähen Sturz erlebten, in einem schrecklichen Moment der Wahrheit, in dem sie mit Entsetzen erkennen mussten, dass ihr Körper nicht mehr die für ihre Entschlossenheit notwendigen Ressourcen besaß. Ihre Epoche endete in der Tragik des Zusammenbruchs vor aller Augen: die einen wurden auf einer entscheidenden Bergetappe "stehen gelassen", die anderen beim Zeitfahren "abgehängt". Dies ist das Elend jener Größe, die sich überlegener Kraft verdankt. Eines Tages zerbricht sie und der Athlet wird mitten im Leben zu einem Schatten, zu einem Bewohner der Unterwelt, ein Held nur noch in der Erinnerung. So kommt es, dass in der 100-jährigen Geschichte der Tour, die so viele große Taten zu berichten hat, der Ton einer untergründigen Melancholie mitschwingt.Gunter Gebauer ist Professor für Sportsoziologie und Philosophie des Sports an der Freien Universität Berlin. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher Sport in der Gesellschaft des Spektakels (Academia-Verlag, St. Augustin 2002) und, zusammen mit Beate Krais, Habitus (Transit-Verlag, Münster 2002).
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