Claude in Venedig

Trauerspiel Der Fotograf Gerhard Ullmann sammelt Lido-Impressionen

Die Stadt ist die Geschichte einer Flucht. Schon ihre Namengebung legt eskapistisches Gedanke frei. Die Legende will es, dass sich hier einige versprengte Oberitaliener, das Heer mordender Hunnen und Langobarden im Rücken, mit der Grußformel "veni etiam" - "bis hierher gekommen" - in die rettenden Arme fielen. Was an der Geschichte dran ist? Man sollte nicht genauer nachbohren. Schließlich könnte sich eine Stadt wie Venedig keinen trefflicheren Gründungsmythos ausdenken.

Wer in die Lagunenstadt kommt, wollte schon immer Urlaub von der Wirklichkeit. Was bewiese dies besser, als ihr Ruf des ewigen Honeymoons? Als wäre der bedrohliche Ehetrott noch weit schlimmer als eine brandschatzende Hunnenbande. Irgend etwas muss es mit der Fluchtgeschichte also auf sich haben. Denn tatsächlich: In Venedig verschmilzt die Realität täglich mit der Illusion. Als etwa der Maler Claude Monet, damals schon halb blind, an den Lido kam, hätte er sich für sein impressionistischen Experimente auf der Erde wohl keinen besseren Ort wählen können. Bilderserien wie die vom "Palazzo Contarini del Zaffo" zeigen: Venedig ist nur ein anderes Wort für Impressionismus.

An den Wasserspiegelungen der Lagune lösen sich alle Formen auf. Was hier noch Echt und was Täuschung ist, ist schwer nur auseinander zu klamüsern. Schein und Sein verbinden sich zu einem fast surrealen Schwebezustand. Die Stadt, die fortwährend mit ihrer Lagune abzusinken droht, befindet sich auf den Bildern schon seit längerem in Auflösung. Für das moderne Venedig gilt das noch in weit höherem Maße. Kaum eine Ort, der derartig zu Tode fotografiert worden wäre. Spätestens mit den hypercolorierten Postkarten der sechziger scheinen die prächtigen Paläste und Bürgerhäuser ständig zwischen Bild und Abbild zu pendeln.

Gerhard Ullmann, Photograph und Kunstkritiker, hat es sich daher nicht nehmen lassen, in dieses einmalige Traumspiel einzusteigen. In seinem Fotobuch Venezia obscura präsentiert er einen optischen Irrgarten. Dabei sind es nicht nur die befremdlichen Wasserreflexionen, die einem den Boden unter den Füßen wegziehen. Lange Belichtungszeiten, kleine Serien mit leicht verschobenen Perspektiven oder reale Collagen aus Werbung und Wirklichkeit drehen den Betrachter schwindelig. Da ist zum Beispiel eine Armani-Werbung: Als Großwandplakat an eine Haltestelle geklebt, zeigt sie gelangweilte Kerle, die ausschauen, als würden sie mit den realen Passanten auf einen nächsten Bus warten.

Ullmanns Venedig ist wie sommerlich-luftige Virtualität. Die Bildwelten Monets erhalten bei ihm noch eine Drehung mehr. Wer nach Venedig kommt, ist eben immer auf der Flucht. Nicht nur bei Hunnen und Langobarden gilt: Im Zwielicht des Lidos löst sich auch die größte Eindeutigkeit in flatteriges Wohlgefallen auf.

Gerhard Ullmann: Venezia obscura. Mit einem Vorwort von Lucius Burckhardt. Edition Axel Menges, Stuttgart 2002. 100 S., 59,- EUR

Eine Austellung der Bilder ist noch bis zum 3. August im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main zu sehen.

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