Codewort Sigurd

Norwegen Das Manifest des Massenmörders Breivik zeugt weniger von geistiger Verwirrung, Wahnsinn oder Irrsinn als von intellektueller Verhetzung und Kenntnis der Geschichte

Der norwegische Bombenbastler und Mörder Anders Behring Breivik bezeichnet sich in seinem 1.500 Seiten starken Internet-Manifest als „Kulturkonservativer“, als christlicher Kämpfer („Tempelritter“) gegen Marxismus und Multikulturalismus. Freilich wäre es ein unzulänglicher Kurzschluss, Breivik wegen seiner Nähe zur „Islamkritik“ oder zum christlichen Fundamentalismus umstandslos als Produkt dieser beiden Ideologiefabriken zu bezeichnen. Die Geschichte anderer Terroristen und Terrorgruppen zeigt, dass es keine linearen Verbindungen gibt zwischen Gewissen, Ideologie und Tat. Mit anderen Worten, „islamkritisches“ Talk-Show-Gerede von Broder-Kelek-Sarrazin und Konsorten ist so wenig eine Keimzelle von Terrorismus, wie die „klammheimliche Freude“ über Terrorakte an linken Stammtischen die Wiege bildete für neue „Generationen“ von Terroristen.

Solche eilfertigen Zuschreibungen sind so durchsichtig und hilflos wie die Beschreibung der Taten als „nicht zu erklärende Geschehnisse“, auf die als „einzige Kategorie … Wahnsinn“ zutreffe (Georg Paul Hefty, FAZ vom 25. 7.) oder mit schiefen historischen Vergleichen. Thomas Steinfeld (Süddeutsche Zeitung vom 25. 7.) wollte in Breivik „ein Ein-Mann-Freikorps“ sehen und belegt damit nur, dass seine Kenntnisse über die kriminellen Freikorps nach Kriegsende 1918 erweiterungsbedürftig sind. Auch der norwegische Premier Jens Stoltenberg vergriff sich in den historischen Dimensionen, als er die Attentate als „schlimmsten Ausbruch der Gewalt seit dem Zweiten Weltkrieg“ bezeichnete. Der Norwegen-Feldzug der Wehrmacht kostete 4.000 deutsche, 1.400 norwegische, 530 polnische und 3.400 britische Soldaten das Leben – Zivilisten nicht mitgezählt. Mit der deutschen Besetzung wurden im Oktober 1942 fast die Hälfte der 1.700 norwegischen Juden in deutsch-norwegischer Zusammenarbeit deportiert und ermordet.

Andererseits reagierte Stoltenberg auf den Massenmord nicht mit der hierzulande üblichen Forderung nach mehr Sicherheitsgesetzen, mehr Datenspeicherung und „roten“ Listen, sondern mit dem Ruf nach „noch mehr Demokratie, noch mehr Offenheit, noch mehr Humanität“. Das spricht nicht nur für das politische Format des Sozialdemokraten, sondern führt auch zum Kern des Problems. Der Täter und seine Tat müssen im Kontext des Erfolgs von rechtspopulistischen, europa- und fremdenfeindlichen sowie islamophoben Parteien in Skandinavien gesehen werden – von der Dänischen Volkspartei bis zur Fortschrittspartei in Norwegen, die bei den Wahlen 2009 rund ein Viertel der Stimmen gewann und der Breivik nahe stand, bevor er sich radikalisierte.

Breiviks Vorbild

Der Prozess dieser Radikalisierung liegt noch ziemlich im Dunkeln. Immerhin ist bekannt, dass er sich langsam vollzog und fast zehn Jahre dauerte. Breivik wählte als Codewort den Namen des Kreuzfahrers Sigurd. Sein Manifest trägt den Titel 2083. Europäische Unabhängigkeitserklärung. Er spielt damit auf das Jahr 1683 an, als die Türken vor Wien standen. Das ganze Manifest Breiviks zeugt weniger von geistiger Verwirrung, Wahnsinn oder Irrsinn als von intellektueller Verhetzung. Breiviks Vorbild ist Theodore Kaczynski, genannt der Unabomber, der zwischen 1976 und 1995 16 Briefbomben verschickte und damit drei Menschen tötete. Er war ein brillanter Mathematiker, bevor er sich aus seiner Karriere in Berkeley zurückzog und in die Berge Montanas ging, wo er in einer kleinen Holzhütte hauste und ein Manifest mit dem Titel Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft (1995) verfasste, das 2005 als Unabomber-Manifest in der Edition Nautilus auf Deutsch erschien.

Vom ersten bis zum 232. und letzten Satz ist das Manifest so wenig ein Dokument des Wahnsinns wie Breiviks Textcollage, in der er sich auf Churchill, Atatürk, Herzl, die Frankfurter Schule, Bismarck und viele andere bezieht. Gefährlich wird Breiviks Pamphlet erst durch seine hermetische Abdichtung und die Imprägnierung mit Parolen rechtskonservativer Parteipolitik zur „kulturellen marxistischen Vergewaltigung seit 1968“, zur „marxistisch-islamischen Allianz“ oder zum „Krieg für das europäische Christentum“. Breivik sog sich förmlich voll mit derlei Gebräu und verdickte es – im rechtspopulistisch geprägten Klima – zum mörderischen Gemisch. Über den langen Weg von der Rede zur Tat kann man nur spekulieren, bevor das Gericht vielleicht Licht ins Dunkel von Breiviks Leben bringt.

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