Der Demokratie droht Long Covid

Corona In der Pandemie fällt die Wissenschaft zunehmend politische Entscheidungen, während sich die Politik selbst versteckt. Folgt auf „Follow the Science” bald die postdemokratische Depression?
Wenn es um Politik geht, sollte sich die Wissenschaft eigentlich eher im Hintergrund halten
Wenn es um Politik geht, sollte sich die Wissenschaft eigentlich eher im Hintergrund halten

Foto: Hannibal Hanschke/AFP via Getty Images

Drohen, das sagt ja eine jüngere Studie, bis zu 40 Prozent der von Corona Genesenen Long-Covid-Symptome, auch bei mildem Verlauf? Sind es, wie anderswo zu lesen, eher zehn Prozent? Oder doch noch viel weniger? Alle reden darüber, doch gewiss ist kaum etwas. Klar ist indessen, dass in der Pandemie die Wissenschaft nicht nur so dringlich, sondern auch so kontrovers in den Blickpunkt gerückt ist wie kaum je zuvor. Neben die irrationale Wissenschaftsverachtung tritt dabei zusehends ein anderes Extrem: Eine Art Follow-the-Science-Populismus, dem es gar nicht schnell genug gehen kann, bis die Laberköpfe aus der Politik die jetzt wichtigen Entscheidungen endlich an diejenigen abgeben, die etwas von der Sache verstehen.

Und diesem Wunsch ist, wie wir jüngst gelernt haben, bereits in erheblichem Maße Rechnung getragen worden. Wie sich im Januar herausstellte, ist nämlich in der wer-weiß-wievielten Covid-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmeregelung – wann war die noch gleich? – festgelegt, dass wissenschaftliche Lageeinschätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) nunmehr unmittelbare Wirkung auf weitreichende Bestimmungen haben, die für alle sofort gelten. Zum Beispiel die Verkürzung des „Genesenenstatus“ auf drei Monate, die jetzt in den Schlagzeilen ist.

Das kommt plötzlich und ist für viele unangenehm, entsprechend ist der Ärger groß. Doch während nun viel darüber spekuliert wird, ob und wann und Karl Lauterbach davon wusste oder wie eine seinem Gesundheitsministerium nachgeordnete Behörde ihn derart düpieren konnte, ist es um die eigentlich heikle Frage erstaunlich still: Was heißt es eigentlich, dass eine solche Entscheidung an ein wissenschaftliches Institut ausgelagert wird? Und was war das am Ende für eine Entscheidung, die es gefällt hat?

Politische Entscheidung des Robert-Koch-Instituts

Jener Genesenen-Status gilt in anderen Staaten, die über mit dem RKI vergleichbare Beratungsgremien verfügen, auch weiterhin doppelt oder gar dreimal so lange. Und die Untersuchungen, auf die das RKI zur Begründung verweist, raten keinesfalls in dringlicher Eindeutigkeit zu dieser Verkürzung. Man hat also dem RKI eine Entscheidungskompetenz übertragen, um wissenschaftliche Erkenntnisse schneller und mit weniger Reibungsverlust in die Politik zu bringen. Doch stattdessen hat das Institut am Ende eine genuin politische Entscheidung getroffen. Nämlich die, in nach wissenschaftlichen Maßstäben zumindest unklarer Lage für Vorsicht zu optieren – mit dem Hintergedanken, durch die Verkürzung des Genesenen-Status weitere Impfanreize zu setzen?

Letzteres Ziel mag man vielleicht richtig finden, aber noch einmal: Die Verkürzung des Genesenenstatus ist nicht so dicht mit Daten unterfüttert, dass schlechterdings keine andere Entscheidung möglich wäre. Es geht hier primär um das Wünschenswerte. Doch die Schuld an dieser Ebenen-Überschreitung trifft eher die Politik als das Institut: Die Wissenschaft ist für schnelle, „eindeutig richtige“ Entscheidungen einfach nicht geschaffen. Das gilt vielleicht sogar besonders für die experimentell-statistischen Disziplinen. Diese treten ja nicht vor die Türe und lassen sich den Zustand der Welt offenbaren. Sie bekommen methodisch kontrollierte Antworten auf genau die Detailfragen, die sie gestellt haben. Dann folgen Checks und Gegenchecks, natürlich auch anhand anderer Fragestellungen. Das dauert. Und zwar mitunter länger als die Zeitspanne, innerhalb derer derzeit gehandelt werden muss.

Wollte sich die Politik hier hinter „der Wissenschaft“ verstecken? Da der Vorgang kaum wahrnehmbar diskutiert wurde, wissen wir das nicht. Bekannt ist inzwischen dagegen, dass der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags diese Kompetenzverschiebung für problematisch hält. Das ist sie auch: Zwar hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem spektakulären Klima-Urteil von 2021 gesagt, dass es Fälle geben kann, in denen wissenschaftliche Erkenntnisse politisch unhintergehbar sind. Aber allgemein bleiben politische Entscheidungen im Rahmen der Verfassung Sache des Souveräns, der sich für seinen Willen nicht „sachlich“ rechtfertigen muss: Beratung – ja bitte. Aber keine Abgabe der Entscheidung an die Beratenden.

Postdemokratischer Schub in der Corona-Krise

Nicht von ungefähr machte schon lange vor der Pandemie das Schlagwort von der „Postdemokratie“ die Runde. Schleichend, so diese Diagnose, würden die Demokratien von innen und oben ausgehöhlt: Durch eine Expertokratie, die sich zunehmend aus sich selbst rekrutiert und zwischen Politik und Wirtschaft hin und her springt, durch wuchernden Lobbyismus und durch Beraterfirmen, die oftmals nicht nur die Gesetze formulieren, sondern bisweilen auch diejenigen beraten, die diese Gesetze betreffen. Durch Corona kommen nun gleichgerichtete Impulse einer fragwürdigen „Verwissenschaftlichung“ von Politik dazu. Unsere Demokratie läuft nicht weniger Gefahr, in eine Art Long-Covid-Syndrom abzugleiten als 40, zehn, oder wieviel Prozent der Infizierten auch immer.

Finden wir nach der Pandemie die Kraft, zumindest den letztgenannten postdemokratischen Schub gehörig aufzuarbeiten? Derzeit stimmt der Rundblick nicht optimistisch. Gar nicht so wenige könnten sich längerfristig in eine Welt bizarrer Verschwörungsnarrative verabschieden. Ein zweiter, nicht unbedeutender Teil der Bevölkerung ist einfach ausgelaugt und will nichts mehr hören. Und der Rest von dem, was einmal Mainstream war, betrachtet sich selbst vielleicht als „rational“ und „wissenschaftsbasiert“, hat sich aber klar für ein bestimmtes Informations-Menü entschieden. Was dazu nicht passt, lässt man kaum weniger konsequent abperlen als die vielgescholtenen „Schwurbler“. Das zeigte sich zuletzt, als die populäre ZDF-Satiresendung „heute show“ äußerst plump und aggressiv auf den angeblich vertrottelten, verstockten und somit schlicht gemeingefährlichen Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission einprügelte. Dieser besaß zumindest bisher die Kühnheit, die Empfehlungen seines Gremiums partout nicht nach politischer Notwendigkeit aussprechen zu wollen, sondern gemäß ihm vorliegender wissenschaftlicher Daten. Viel mehr ist in dem Zusammenhang zu „Follow the Science“ nicht zu sagen.

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Geschrieben von

Velten Schäfer

Redakteur „Debatte“

Velten Schäfer studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Afrikanistik in Berlin und promovierte in Oldenburg mit einer sportsoziologischen Arbeit. Nach einem Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland arbeitete er zunächst als freier Journalist. 2014 wurde er erst innenpolitischer und dann Wissenschaftsredakteur beim neuen deutschland. Anfang 2021 kam er zum Freitag, wo er sich seither im Debattenteil als Autor und Redakteur mit Fragen von Zeitgeist und Zeitgeschehen befasst.

Velten Schäfer

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