Radikal pragmatisch

Politik Welche Machtverschiebungen im globalen Kapitalismus hat die Coronakrise bewirkt? Adam Tooze weiß es
Ausgabe 43/2021

Ich hatte mir eigentlich geschworen, kein Buch über Corona mehr aufzuschlagen. Seit anderthalb Jahren quellen die Regale deutscher Buchhandlungen ob der zahlreichen Publikationen rund um SARS-CoV-2 über, von Hans-Werner Sinn über Markus Gabriel bis hin zu Sucharit Bhakdi scheint sich jeder Quälgeist unter den deutschen Public Intellectuals mittlerweile zum Thema zu Wort gemeldet zu haben. Und ohnehin: Was gäbe es über diese Krise noch Neues zu sagen?

Tatsächlich erstaunlich viel – zumindest, wenn der Autor Adam Tooze heißt. Zuletzt hatte der britisch-deutsche Wirtschaftshistoriker 2018 für internationales Aufsehen gesorgt, damals erschien sein Finanzkrisen-Mammutwerk Crashed. Nun hat er mit Welt im Lockdown eine ambitionierte Geschichtsschreibung des ersten Corona-Jahres (von März 2020 bis März 2021) vorgelegt.

Zugegebenermaßen: Es ist ein Buch, das sich befremdlich liest. Denn die beschriebene Welt – eine der Vorsicht, der Masken, der täglichen Einschränkungen – ist immer noch die unsere, auch wenn sie im Präteritum auftritt. Die Impfquote stockt, ein postpandemischer Zustand ist weiterhin nicht in Sicht – da kann eine solche Chronologie durchaus irritieren. Ist es nicht vielleicht sogar zu früh, sie zu schreiben? Diese Schwierigkeit, noch inmitten der Krise ein erstes Résumé zu formulieren, ist dem kritischen Zeithistoriker selbst klar: Er will laut eigener Aussage ein Werk vorlegen, „das es zu überschreiben gilt“.

Ist die anfängliche Irritation jedoch einmal überwunden, dann bietet Tooze’ neues Buch erhellende Analysen: Schon in der Einleitung werden die Widersprüche der ökonomischen Gegenwart präzise dargelegt. Denn auch wenn die Befürworter eines Green New Deal recht behielten; auch wenn die staatlichen Druckerpressen Geld ohne Ende ausspuckten und damit die Lehren der Modern Monetary Theory bestätigten; auch wenn die staatlichen Eingriffe zu Beginn der Krise „nur als Vorboten eines neuen Regimes jenseits des Neoliberalismus erscheinen“ konnten: Ein fundamentaler politischer Wandel ist ausgeblieben.

Im Gegensatz zu ihren Propagandisten nämlich ist die neoliberale „Praxis der Macht“ laut Tooze „immer radikal pragmatisch gewesen“, sodass es im Frühjahr 2020 keiner linken Politiker bedurfte, um nach Ausbruch der Pandemie exakt die Maßnahmen zu ergreifen, die die politische Linke seit Jahren gefordert hatte: Geldhähne auf! Klimaschutz jetzt! Dass ausgerechnet Mitte-rechts-Politiker für eine Neuverschuldung in nie gekanntem Ausmaß sorgen sollten, dass konservative EU-Bürokraten einen Green Deal vorbereiteten: Das ist in der Tat eine „bittere historische Ironie“.

Nach der abstrakt-analytischen Einleitung widmet sich Tooze in vierzehn Kapiteln ausführlich den durch Corona ausgelösten Krisen und ihren Bewältigungsstrategien. Er versteht es hervorragend, den Werkzeugkasten der Zentralbanker und Wirtschaftspolitiker zu öffnen, und blickt dabei im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Beobachtern über die westlichen Länder hinaus – etwa, wenn es um die Geldpolitik von Schwellenländern oder Schuldenschnitte für arme Staaten geht.

Dabei werden von der Pandemie beeinflusste Machtverschiebungen im globalen Kapitalismus sichtbar, die im tagespolitischen Klein-Klein schnell untergehen können – es ist ein Verdienst von Adam Tooze, sie mit seinem neuen Buch ans Tageslicht gebracht zu haben.

Info

Welt im Lockdown: Die globale Krise und ihre Folgen Adam Tooze C.H. Beck, 408 S., 26.95 €

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