Crime Watch No. 63

Kriminalromane Manche Missverständnisse sind zäh und langlebig. Ein solches ist der Topos, dass Das Fräulein von Scuderi von E.T.A.Hoffmann an den Anfang der ...

Manche Missverständnisse sind zäh und langlebig. Ein solches ist der Topos, dass Das Fräulein von Scuderi von E.T.A.Hoffmann an den Anfang der kriminalliterarischen Ahnenreihe gehört.
Aber Hoffmanns Geschichte von Monsieur Cardillac, der für seine Kunst mordet, ist kein Früh-Krimi, sondern eine Künstlernovelle, die sehr zeitgebunden ist. Der "autonome Künstler" der sich in der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts ausprägte und schon im frühen 19. Jahrhundert problematisch wurde, weil die radikale Autonomie des Subjekts notwendig asozial werden musste, stieß nicht nur bei E. T. A. Hoffmann an zwei Grenzen: Den Wahnsinn und das Verbrechen. Weil beides eine gewisse thematische Nähe zur Kriminalliteratur hat, konnte sich das Scuderi-Missverständnis in den Köpfen von Schriftstellern und Lesern gleichermaßen einnisten. Es west noch, wenn vermutlich auch völlig unbewusst, gerade in den Serial-Killer-Romanen fort, die den Mörder als Extrem-Künstler begreifen möchten. Das 18. Jahrhundert ist noch lange nicht tot. Der Wahnsinn, um dessen Darstellbarkeit es immerhin damals noch ging, ist heute, mit dem Verbrechen verquickt, dem nicht näher zu definierenden "Bösen" gewichen - die einschlägige Literatur regrediert gerade bei solchen Themenfeldern auf das Allerputzigste.
Das gilt erstaunlicherweise nicht nur für angloamerikanische und skandinavische Stangenware aus dem unerschöpflichen Themenkörbchen ›irre Killer‹, sondern hat auch Einzug in die feineren literarischen Kreise gehalten. Gerade weil dort der Künstler per se ein anscheinend besonders nobler Gegenstand der Erzählung ist, tritt Meister Cardillac als reichlich vermodderter Revenant wieder auf den Plan.
So bei dem mexikanischen Romancier (und Diplomaten) Jorge Volpi und dessen Roman Der Würgeengel. Der allerdings wurde schon 1993 geschrieben, ist also vor Volpis Erfolg Das Klingsor-Paradox (Freitag 42/2001), aus dem Jahr 1999 entstanden. Die Strukturverquickungen von Wissenschaftsprosa, Spionageroman, Kriminalroman und historischem Roman, die Volpi manch harsche Kritik für den neuen Roman eingebracht haben, sind bei dem älteren Würgeengel sozusagen in statu nascendi zu beobachten. Er ist nämlich nichts anderes als ein spätes, aber sehr deutliches Echo auf das Scuderi-Missverständnis. Der Würgeengel, der durch seinen Titel nur auf deutsch direkt auf Luis Buñuels gleichnamigen Film anspielt, erzählt die Geschichte von dem deutschen Regisseur Carl Gustav Gruber, der sein letztes und natürlich ultimatives Meisterwerk drehen will.
Gruber ist als Figur aus allerlei einschlägigen anekdotischen Details der Jungen Deutschen Autorenfilmer zusammengesetzt. Fassbinder, Herzog, Wenders, Syberberg werden auch alle mehr oder minder ausführlich zitiert. Claude Chabrol hat gar ein Interview mit Gruber geführt, das wir hier lesen dürfen. Gruber also hat sich nach Mexiko zurückgezogen und bereitet, schon tot krank, den letzten Film vor: Ohne Drehbuch, cinéma crudité, spontan, echter als die Wirklichkeit. Dazu lässt er eine Gruppe Schauspieler rekrutieren, formt diese nach seinen Bedürfnissen, bricht sie psychisch und lässt sie aufeinander los. Das Kunstwerk ist weit wichtiger als das Leben und deswegen kommt es, kalkuliert und intentional, zu echten Morden, Feuersbrunst und Panik. Der Künstler ist, pfui, zu weit gegangen.
Obwohl Volpis Erzähldramaturgie verschiedene Perspektiven auf Gruber und sein Projekt nebeneinander stellt, gehört die Hauptstimme Renata, einer unerfahrenen Jungschauspielerin mit Beziehungsproblem, die sich von Gruber umgarnen und instrumentalisieren lässt und seinen titanischen Kampf um das letzte Kunstwerkt verständnisvoll und nobel auslegen kann. Cardillac ist wieder da. Die kriminalliterarisch einschlägigen Fragen, die das Buch pointiert stellt - Wer hat wen eigentlich genau wann und wie umgebracht? Ist Gruber entkommen? Wer hat das beweisvernichtende Feuer gelegt? Was ist überhaupt passiert? - stricken das Scuderi-Missverständnis weiter fort. ETA Hoffmanns Text wurde ex post zum Frühkrimi ernannt, um ein gewisse Nobilitierung des Genres zu erreichen. Volpi benutzt diese falsche Nobilitierung, um seine geistesgeschichtlich längst erledigte Story in aktuellem Gewand ans Publikum bringen zu können. Das nennen wir gruselige Ironie und fahle Chuzpe.

Jorge Volpi: Der Würgeengel (El temperamento melancólico, 1993). Deutsch von Susanne Langer. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2002; 303 S., 19,- EUR

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