Crime Watch No. 70

Krimis Kaum eine Sorte Literatur klebt so an ihren thematischen Mustern wie die Kriminalliteratur: Ein Verbrechen geschieht, dann wird es aufgeklärt. Dieses ...

Kaum eine Sorte Literatur klebt so an ihren thematischen Mustern wie die Kriminalliteratur: Ein Verbrechen geschieht, dann wird es aufgeklärt. Dieses Verbrechen ist meist ein Mord (oder mehrere), das Recht muss am Ende nicht unbedingt siegen, noch nicht einmal Gerechtigkeit einkehren. Aber dieses eine Verbrechen ist das Skandalon, der Mord der ausgezeichnete Fall, an dem dann die historisch oder ideologisch unterschiedlichen Mechanismen seiner literarischen Bearbeitung durchdekliniert werden. Daran hat sich, bis auf zeitbedingte Variationen, seltsamerweise seit hundert Jahren wenig geändert.

Der alte kulturkritische Verdacht, gerade "Genreliteratur" sei die Wiederkehr des Immergleichen, scheint an diesem Punkt seine fatale Berechtigung zu haben. Dieses Immergleiche tritt, grob gesagt, in zwei Ausprägungen auf: Erstens: das Skandalon ist am Ende gelöst. Die Welt kann, muss aber nicht, danach wieder in Ordnung sein. Zweitens: Die Welt als solche ist verbrecherisch, das Skandalon ist ein besonders böses Verbrechen oder ein in diesem Weltbild besonders moralisch niedriges wie Verrat, aus dem dann Mord entspringt. Erstere Variante wollen wir mainstream nennen, die zweite nennt man meist noir. Beide gibt es seit Dekaden. Beide sind strukturell kaum erneuerbar.

Das liegt daran, dass man sich zwar beträchtlich um die literarische Renovierung beider Varianten gekümmert hat, aber darüber den anderen Teil des Terminus, nämlich "Kriminal-", aus den Augen verloren hat. Dass das Verbrechen, dass die Kriminalität historisch variable Begriffe sind, scheint in der Kriminalliteratur - vermutlich, weil sie meist auf den Extremfall Mord fixiert ist - ein kaum reflektiertes Faktum zu sein. Zwar gab und gibt es immer wieder literarische Entwürfe, die genau diese Variabilität thematisieren (Lawrence Block, Chester Himes), aber gegen die Dampfwalze der oben genannten "Normalausprägungen" hatten sie kaum reale Chancen in der Publikumsgunst.

Erst recht nicht Entwürfe, die ausgehen von Emile Durkheims 1895 in seinem Aufsatz Regeln der soziologischen Methode formulierten Grundthese "Kriminalität ist soziale Normalität". Nennenswerte literarische Reflexe dazu finden sich höchstens in den Romanen von Joseph Wambaugh, Friedrich Ani, Pieke Biermann, Jack O´Connell et al. Und im Gesamtwerk von Georges Simenon wegen der schieren Masse verwechselbarer Texte, die eine Art Kontinuum des Verbrechens ergeben. Eine Qualität, die im Getöse der Panegyrik zu Simenons 100. Geburtstag außerhalb der Wahrnehmungssensorien der meisten Gratulanten lag.

Kein Wunder, wenn solche Sensorien auch bei den allermeisten Konsumenten und vielen Produzenten brach liegen. Das Abwehrargument, das eine sei eben Literatur, das andere die Wirklichkeit, zieht jedoch nicht. Denn Literatur kommuniziert als spezifische Organisationsform von Texten über Wirklichkeiten - also kann es nicht schaden, diese auch in ihrer Veränderlichkeit genau wahrzunehmen. Deswegen möchte ich, wenn ich schon die Geduld der geneigten Leserschaft mit trockener Theorie strapaziere, auf einen extrem spannenden Entwurf aus der Wirklichkeit hinweisen, der auch für die Literatur extrem fruchtbar sein könnte: Henning Schmidt-Semischs kühnen Vorschlag, Kriminalität aus dem Bezugsrahmen von Handlung und Strafe herauszulösen, sie zu verstehen als lebensweltliche Kategorie, der wir alle jederzeit und grundsätzlich ausgesetzt sind, und sie in den Bezugsrahmen von "Risiko" und "Versicherung" zu stellen.

Die Implikationen sind erstaunlich, weil erfreulich pragmatisch. Denn was würde wohl passieren, wenn das Strafrecht als moralisches Institut ersetzt würde durch eine Pflichtversicherung gegen das Risiko, Verbrechensopfer zu werden - mit allen kompensatorischen Komponenten, die das eher symbolische Strafrecht dem Opfer nicht gewähren kann? Glücklicherweise behauptet unser Autor nicht, damit ein Antidot gegen das Verbrechen gefunden zu haben. Aber die Sozialisierung von Verbrechensfolgen würde gesellschaftliche Produktivkräfte im kollektiven Umgang mit Verbrechen freisetzen, die vermutlich erstaunlich wären. Wie das im Einzelnen aussehen könnte, das könnte man getrost der spekulativen Abteilung "Kriminalliteratur" zu Nutz und Frommen überlasssen - vorausgesetzt, sie verlässt endlich ihre thematischen Trampelpfade.

Henning Schmidt-Semisch: Kriminalität als Risiko. Schadensmanagment zwischen Strafrecht und Versicherung. Gerling Akademie, München, 2002, 285 S., 27,60 EUR

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