Vor gut 50 Jahren, am 7.Oktober 1954, fand im Berliner Ensemble die deutsche Erstaufführung von Bertolt Brechts Stück Der Kaukasische Kreidekreis statt. Die Kritik in der DDR war zurückhaltend bis ablehnend. Im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan der SED, erschien überhaupt keine Besprechung. Die Kritik in Westberlin und der BRD lehnte zwar die politische Intention von Stück und Aufführung mehrheitlich ab, zeigte sich den formalen Aspekte gegenüber aber zustimmend bis begeistert.
Anfang Mai 1954 konnte ich der Einladung von Brecht folgen, ihn bei einer Probe des Kaukasischen Kreidekreises im Theater am Schiffbauerdamm aufzusuchen. So wie er in der Probebühne in der Reinhardtstraße öfter auf der für ihn eingerichteten "Kanzel" saß,
ihn eingerichteten "Kanzel" saß, so sah ich ihn nun, wie er erst vom linken, dann vom rechten Rang aus die Vorgänge auf der Bühne verfolgte. Als er mich erblickt hatte, tippte er an seine Mütze und grüßte. Begleitet war er von seinen Mitarbeiterinnen Käthe Rülicke und Isot Kilian, die notierten, was ihm wichtig schien.Am Regiepult im Parkett hielt derweil Manfred Wekwerth die Stellung, seitlich vor ihm bediente Hans Bunge ein Tonbandgerät, um die Probe aufzuzeichnen. Zum Regiestab gehörten während dieser Probe auch der Bühnenbildner Karl von Appen und Paul Dessau, der die Musik zum Kreidekreis komponiert hatte.Geprobt wurde der l. Akt. Als nach dem "Vorspiel" der Vorhang hochging, fiel mein Blick auf den Gouverneurspalast vor einer steil übereinandergebauten Bergstadt, die in lichten Farben auf einen Hänger aufgemalt war. Die Kostüme des Volks, das sich am Eingang versammelt hatte, wirkten für eine Brecht-Inszenierung erstaunlich bunt. Die aus dem Tor herauskommende Gouverneursfamilie war prächtig ausgestattet. In der Loge rechts waren der Sänger und die Musik platziert. Scharf abgesetzt von der pompösen Eröffnung der Auftritt des Küchenmädchens Grusche und des Soldaten Simon, die eine von Angelika Hurwicz, der andere von Raimund Schelcher dargestellt, wieder ankündigt durch den Sänger, an dessen Stimme ich sofort Ernst Busch erkannte.Vom ersten Blick auf die Bühne an wurde deutlich, dass hier Episches Theater nicht "gezeigt", sondern zelebriert werden sollte. Einprägt hat sich mir, wie Brecht den Darsteller des fetten Fürsten, Wolf Kaiser, geradezu paradoxal anregte: "Der Zuschauer muss Sie sich auch mal richtig wegdenken können. Erst wenn er das nicht fertig bringt, stimmt Ihre Arbeit."In einer Probenpause wurde ich von Brecht und Weigel zur Premiere eingeladen. Ich konnte jedoch erst eine Aufführung Mitte Oktober sehen, als ich meine Zusammenarbeit mit dem Deutschlandsender beendet hatte, um in die Redaktion der Deutschen Woche in München als politischer Redakteur, Theater- und Literaturkritiker einzutreten. Was mir im Mai aufgefallen war, sah ich nun durchgängig angewandt: Eine hohe Detailbeflissenheit, ein fast behäbiges Ausspielen der Szenen wie der epischen Durchbrechungen und Aufhebungen, dem etwas Didaktisches anhaftete, ein ästhetischer Zeigefinger: Seht, so wird Episches Theater gemacht! Ich war hin- und hergerissen. Einerseits erkannte ich die Notwendigkeit an, ein solches ästhetisches Exempel zu statuieren, um tradiertem Oberflächenrealismus der zeitgenössischen, auch der sozialistischen Bühne entgegenzuwirken. Andererseits empfand ich, dass das gewählte Gleichnis zu wenig mit den realen Vergesellschaftungsprozessen der DDR zu tun hatte.Als ich mich an die Kritik für die Deutsche Woche machte, fiel mir mit einmal ein höchst aktuelles Beispiel über den Streit zweier Mütter um ein Kind ein. Im September 1954 hatte ich an einer Verhandlung vor einem Gericht der amerikanischen Hochkommission in Weiden/Oberpfalz teilgenommen. Es ging um den Anspruch der französischen Widerstandskämpferin Georgette Phelippeau auf ihr Kind Josette, das sie 1943 nach ihrer Verhaftung durch die Gestapo im Gefängnis von Schwäbisch-Gmünd geboren hatte. Die Phelippeau wurde wenig später in Breslau zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, das Kind in ein Waisenhaus in Breslau gegeben. Nach der Evakuierung des Waisenhauses nach Eger im Sudentenland wurde Josette durch die kinderlose Ehefrau Erna Rustler aus Franzensbad adoptiert, die es nach Kriegsende in den Ort Wiesau/Oberpfalz verschlug. Die leibliche Mutter Phelippeau hatte sofort nach ihrer Befreiung die Suche nach der weggenommenen Tochter aufgenommen und konnte 1948 deren Verbleib ausfindig machen. Über die Internationale Flüchtlingskommission verlangte sie die Rückführung. Ein Gericht in Weiden entschied in erster Instanz, das Kind solle bei der Adoptivmutter verbleiben, da Josette die leibliche Mutter nicht kenne, die französische Sprache nicht verstehe und eine Verbringung in ein fremdes Land deshalb eine "seelische Grausamkeit" darstelle. Die leibliche Mutter wandte sich daraufhin an die Französische Hohe Kommission in Deutschland und erreichte eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Selbst in den Berichten der bürgerlichen Presse über das Verfahren wurde die zögerliche Rückführungsbereitschaft der amerikanischen Besatzungsbehörden in Zusammenhang damit gebracht, dass die Phelippeau für den Maquis gearbeitet hatte, inzwischen Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs geworden war und von dieser auch Rechtsanwälte gestellt bekam.Unter dem Eindruck dieses realen Streits, in dem sich das Geschichtsdrama widerspiegelte, kam ich eingangs meiner Kritik für die Deutsche Woche zu dem Ausruf: "Welch ein Vorwurf für einen modernen Dramatiker, der sich um die Aktualisierung des alten Themas bemühte!" Dieser Fall berühre uns mehr als das Urteil Salomos oder die modernen Bearbeitungen des altchinesischen Kreidekreises Hoei-lan-ki aus dem 13. Jahrhundert, in dem bereits die richtige Mutter durch Weigerung, dem Kind wehzutun, erkannt wurde. Selbst Brechts Kaukasischem Kreidekreis hafte "gegenüber dieser lebendigen Wirklichkeit etwas Abstraktes an", auch wenn Brecht die gesellschaftliche Moral ziehe: "Ihr aber, ihr Zuhörer der Geschichte vom Kreidekreis/ Nehmt zur Kenntnis die Meinung der Alten:/ Dass da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind." An der Inszenierung des Stücks im Berliner Ensemble fand ich hervorhebenswert, dass Brecht als Regisseur das Ensemble zwang, "so exaktes und präzises Theater zu spielen, wie es auf keiner deutschen Bühne getan wird", fand aber durch die ständige Unterbrechung und Kommentierung der Fabel die Schlüssigkeit der Fabel gestört. "Ohne die formalen Verfremdungseffekte wäre der Kaukasische Kreidekreis wirklich ein Volksstück wie Herr Puntila und Mutter Courage."Noch bevor die Kritik am 27.Oktober 1954 in der Deutschen Woche erschien, hatte ich den Einfall zu einer Dramatisierung mit dem Titel Der Oberpfälzische Kreidekreis gehabt. Schon am 20.Oktober 1954 schrieb ich den "lieben Bert Brecht" an: "Am liebsten wäre mir, wenn ich bei der Ausarbeitung eine ähnliche Hilfe erfahren könnte, wie Sie sie Erwin Strittmatter zuteil werden ließen."Ohne Brechts Antwort abzuwarten, verfasste ich zunächst ein Exposé für eine Filmversion und bot es der Defa an. Darin beginnt die Ziehmutter unter dem Schmerz der Kindsmutter zu erkennen, dass sie im Grunde nur "ein Werkzeug des völkerverhetzenden und menschenverfeindenden Imperialismus sein soll, und verzichtet zugunsten der wahren Mutter auf das Kind." Ins Gespräch mit Brecht kam ich, nachdem ich als Autor an der Feier zum 110. Gründungstag des Verlags Rütten Loening im Dezember 1954 in Ostberlin teilgenommen hatte.Ich traf Brecht im Turmzimmer des Berliner Ensembles, das dem "Chef" vorbehalten war. Wegen meiner kritischen Einwänden an seiner Inszenierung, die ich mit der Anfrage verbunden hatte, ob er mich bei der Abfassung meines "Oberpfälzischen Kreidekreises" unterstützen würde, feixte er mich an: "Nicht schlecht von Ihnen: Mich kritisieren und mir gleichzeitig um den Bart gehen!" Zwischen Vorhaltung und Bedauern bemerkte er zu den kritischen Einwänden, ich befände mich damit in der Nähe von Fritz Erpenbeck, der in der Dezembernummer von Theater der Zeit die Kritik an der Kreidekreis-Inszenierung zur Wiederaufnahme und Fortsetzung seiner grundsätzlichen Kritik am Epischen Theater benützt habe, indem er fragte: "Episches Theater oder Dramatik?"Ich kannte weder den Beitrag, noch glaubte ich, dass Episches Theater und Dramatik einander ausschließen müssten. Brecht spottete: "Ach, ein bisschen Schwangerschaft wollen Sie schon, sozusagen ein sozialdemokratisches Episches Theater?" Er wurde lebhaft: "Nein, nein, das geht nicht. Entweder oder. Da bin ich wie Erbsenspeck." Er verteidigte die epische Struktur des Stücks, gab aber zu, dass auch andere, so der von ihm hochgeschätzte Gewerkschaftstheoretiker Hermann Duncker, Schwierigkeiten damit hätten. Es gelte eben auch die Zuschaukunst zu entwickeln, mit der es genau besehen, noch schlechter stehe als mit der Schauspielkunst. Auf meine Nachfrage, ob er mir bei der Abfertigung eines Stückes über den "Oberpfälzischen Kreidekreis" behilflich wäre, erwiderte er: "Das ist eine wirkliche Aktualisierung des Kreidekreis-Motivs, ich geb´s zu. Aber ich glaub´, sie ist eher für den Film geeignet. Der kann man die Geschichte viel echter, wirklichkeitsnaher darstellen. Das ist in dem Fall wichtig, weil ja die Amis höchst real mitmischen. Wenn Sie die Geschichte jetzt aufs Theater bringen wollen, dann vielleicht am ehesten im Stil eines Dokumentarstücks. Aber bis Sie das aufs Theater kriegen, kann es passiert sein, dass der Fall kein Fall mehr ist. Und nichts ist im Theater gestriger als erledigte Aktualität."Nachtrag: Mein Exposé und ein später angefertigtes Treatment zu einem Oberpfälzischen Kreidekreis wurden von der Defa ohne meine Kenntnis zum Film Zwei Mütter weiter entwickelt, mit dem Frank Beyer debütierte. Ich strengte einen Urheberrechtsprozess an, den ich gewann. Da war Brecht allerdings schon zwei Jahre tot.Ernst Schumacher war mit Bertolt Brecht und Helene Weigel seit Juni 1949 persönlich bekannt. Er hat 1953 bei Hans Mayer und Ernst Bloch an der Universität Leipzig seine Dissertation Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918 bis 1933 verteidigt und damit die akademische Brecht-Forschung eröffnet. Die Episode vom Oberpfälzischen Kreiskreis ist in gekürzter Form Schumachers Erinnerungen an Brecht entnommen, die unter dem Titel Mein Brecht. Erinnerungen 1943 bis 1956 beim Suhrkamp Verlag zur Veröffentlichung vorgesehen sind.
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