Da hilft kein Beten

Schweiz Der Volksentscheid gegen Einwanderung bringt das Land außenpolitisch und völkerrechtlich in Schwierigkeiten
Ausgabe 34/2014

In diesem Land galten bis vor kurzem Volksentscheide als so sakrosankt wie päpstliche Dekrete: Roma locuta, causa finita (Rom hat entschieden, der Streit ist zu Ende – ins Helvetische übersetzt: Das Volk hat entschieden. Basta). Dieser Grundsatz gerät gerade ins Wanken, denn die Umsetzung der beim Referendum am 9. Februar 2014 erfolgreichen Initiative von rechts gegen „die Masseneinwanderung“ stößt auf Kritik: Die Export-, die Bau- und die Tourismusbranche wollen von einer Beschränkung der Einwanderung weniger denn je etwas wissen. Doch die nationalistische Schweizerische Volkspartei (SVP) droht schon mit einer verschärften Durchsetzungsinitiative, sollte die Berner Regierung der EU mit Konzessionen entgegenkommen. SVP-Chef Christoph Blocher zog sich aus dem Parlament zurück und widmet sich seither hauptberuflich dem „Kampf gegen den schleichenden EU-Beitritt“.

Mit der knappen Zustimmung einer Mehrheit der Schweizer Bürger zu Blochers Einwanderungsinitiative vor acht Monaten wurde die Regierung in ein Dilemma getrieben: Sie steht nun vor der Alternative, entweder internationales Recht und Abkommen mit der EU zu brechen oder den Volkswillen demonstrativ zu ignorieren. Die EU hat deutlich gemacht, dass es nichts zu verhandeln gibt mit der Schweiz, was den Grundsatz der Personenfreizügigkeit, Einwandererkontingente oder den Vorrang für Schweizer bei Stellenbesetzungen betrifft. Die Eidgenossen müssen sich entscheiden: Wollen sie einen privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt und akzeptieren sie dessen Regeln? Oder wollen sie einen Drittstaatenstatus wie die USA, Serbien, Angola und andere Länder?

Die Umsetzung der Einwanderungsinitiative tangiert aber nicht nur bilaterale Abkommen zwischen der EU und der Schweiz, sondern auch das Völkerrecht – zum Beispiel die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und das im Artikel 8 enthaltene Recht auf Familienleben, das heißt, auf den Familiennachzug für Arbeitsemigranten. Davon machen pro Jahr 50.000 Personen Gebrauch. Hinzu kommen ein völkerrechtlich geregeltes Abschiebeverbot sowie andere Verpflichtungen aus internationalen Abkommen.

In ihrer nationalen Selbstverblendung glauben Blocher und seine Freunde, nicht die Schweiz sei auf die EU, sondern die EU auf die Schweiz angewiesen. Jede nüchterne Betrachtung kommt jedoch zum Ergebnis, dass eine substanzielle Abnahme der schweizerischen Exporte in die EU-Staaten im Wert von derzeit etwa 80 Milliarden Euro pro Jahr das Land ungleich härter träfe als die Verringerung der Exporte von 28 EU-Staaten in die Schweiz für augenblicklich 140 Milliarden Euro. Es ist reine Demagogie, wenn Blocher behauptet: „Die Verträge sind für die Schweiz verzichtbar.“ Die Zurückstufung auf einen Drittstaatenstatus würde einzelne Branchen sicher unterschiedlich treffen, aber für einige – Maschinenbau, Feinmechanik, Pharmazie und Chemie – wäre sie ruinös.

Völlig illusionär ist die Vorstellung der helvetischen Nationalisten, es würde im Streit mit der EU nur um Einwanderungspolitik gehen. Das politisch gedeckte, kriminelle Geschäftsmodell der Schweizer Banken steht weltweit am Pranger, teils sogar vor Gericht. Von Nordrhein-Westfalen kaufte sich das Bankhaus UBS jüngst mit 300 Millionen Euro frei, und in Paris musste das Unternehmen am gleichen Tag 1,1 Milliarden Kaution in einem Prozess wegen Geldwäsche hinterlegen. Seit 2009 bezahlten Schweizer Geldhäuser weltweit in 18 Verfahren wegen Beihilfe zum Steuerbetrug und zu anderen Straftaten 9,8 Milliarden Dollar an Strafen. Und in den nächsten Jahren drohen noch zahlreiche weitere Sanktionen in der EU und darüber hinaus.

Die Neue Zürcher Zeitung hat zum Nationalfeiertag am 1. August die Devise ausgegeben: „In der Europapolitik muss die Strategie der Schweiz heißen, beitrittsfähig zu bleiben, ohne beitreten zu müssen.“ Was den EU-Beitritt betrifft, so entscheiden das die Schweizer Bürger allein, aber über die Beitrittsfähigkeit – und die politischen und finanziellen Kosten – muss Bern mit Brüssel verhandeln. Ob dabei „Betet, freie Schweizer, betet!“ hilft, wie es in der seit 1965 vorläufig, seit 1981 offiziell geltenden Nationalhymne heißt, ist nicht so sicher.

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