Da kommt was auf uns zu

Bühne Wer hätte gedacht, dass der 1. FC Köln 2015 im Endspiel der Champions League steht? Das „Archiv der zukünftigen Ereignisse“ lässt uns hören, was wir einst erleben könnten

Der 1. FC Köln setzt schon in den Anfangsminuten zum Sturmlauf an. Das Mittelfeldduo mit Julian Draxler und Mario Götze wirbelt die Mannschaft von Real Madrid kräftig durcheinander. An der Außenlinie kann Trainer Daum kaum an sich halten, und auch den Fachleuten im Wembley-Stadion nötigt der Außenseiter Respekt ab. Wer hätte gedacht, dass die Fußballdiva vom Rhein 2015 im Endspiel der Champions League steht – und in der siebten Minute durch einen Kopfball von Eichner sogar in Führung geht. Der reanimierte Radiokommentator Manni Breuckmann kaschiert seine Begeisterung nicht.

Wunschdenken oder Satire? Weder noch, es handelt sich um eine Szene, die das Duo Hofmann Lindholm in sein Archiv der zukünftigen Ereignisse eingestellt hat und dem Besucher über Kopfhörer als täuschend echte Live-Reportage einspielt. Das Archiv ist der letzte Teil des Projekts Radioortung, das Deutschlandradio Kultur mit drei Performance-Gruppen realisiert hat.

Nach Ligna und Rimini Protokoll in Berlin sind zum Abschluss der Reihe nun die beiden Wahrscheinlichkeitstüftler Hannah Hofmann und Sven Lindholm am Schauspiel Köln dran. Und so wie sie in ihren Stücken immer wieder fiktionale Breschen in die Mauern des Realen schlagen, haben sie hier mögliche Ereignisse aus der Zukunft ausgewählt. Beim Start am Kölner Schauspielhaus bekommt jeder Zuschauer ein Handy in die Hand gedrückt, mit dem er sich auf einen Parcours mit 37 Stationen macht. Jeder wählt aus, welche und wie viele Standorte er ansteuert. Wo man haltmacht, setzt sich via GPS-Ortung ein kleines Hörspiel in Gang, das sich mit der städtischen Topografie verbindet. Am Schauspielhaus hält Karin Beier schon mal ihre Abschiedsrede im Jahr 2013 und am Museum Ludwig eröffnet Direktor Kaspar König am 16. Dezember die Ausstellung Vor dem Gesetz.

Von datierbar über sicher, voraussichtlich bis zu (hoffentlich un)möglich

Beglaubigt werden die Hörstücke durch die real verbürgten Akteure, was zu einer verblüffenden Überlagerung von Gegenwart und Zukunft führt und an die Formulierung des Komponisten Bernd Alois Zimmermann von der „Kugelgestalt der Zeit“ denken lässt. So wird am Bauplatz der neuen Moschee satte 20 Minuten lang die Einweihungsfeier mit Reden des Kölner Oberbürgermeisters, des Bezirksbürgermeisters und des Architekten übertragen – samt Beifall, Geschrei rechtsradikaler Gegendemonstranten und Kommentaren der Ditib-Pressesprecherin.

Zu den erschütterndsten Statements gehört das Zeugnis eines anonymen Demenzkranken, der auf Kölns belebtester Einkaufsstraße vom Verlust seines Gedächtnisses berichtet. Und eine Straße weiter, in Sichtweite des Doms, erzählt Ruth Henkel, die am 30. März 2012 ihren 101. Geburtstag feiert, gelöst von ihrem nahen Tod. Die Gradationen der Wahrscheinlichkeit, mit der Hofmann Lindholm bei ihrem „Pre-Enactment“ arbeiten, reicht von datierbar über sicher, voraussichtlich bis zu (hoffentlich un)möglich – letzteres gilt für das Ereignis Reaktorunfall in der Nähe von Köln.

Schließlich wird man von einfachen sinnlichen Täuschungen überrascht. Da läuft man auf einen ruhigen Kreisverkehr zu und findet sich in einem laut hupenden Autokorso wieder. Akustisch jedenfalls. Die Fiktion schiebt sich über die Realität und sorgt für ein momentanes Erschrecken, Innehalten, Kopfdrehen. Bis 15. Oktober kann man das Archiv, dessen eingetretene Ereignisse nach und nach gelöscht werden, offiziell besuchen. Danach lässt es sich aufs eigene Handy herunterladen.

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