Krise Die Krise, der klamme Sozialstaat, eine Linke auf Bismarcks Pfaden: Der öffentliche Geldspeicher wird in einer Weise geöffnet, die Dabobert schwindelig machen würde
In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die Intellektuellen noch die Aura der Jugendlichkeit und nicht nur die Hosen Schlag hatten, investierte die Sozialwissenschaft hierzulande viel Zeit, Hirn und wechselseitige Missbilligung in die Klärung der Frage, ob der zeitgenössische Staat nun ein strukturell kapitalistischer oder (gewissermaßen „nur“) ein Staat im Kapitalismus sei. Interessierten Beobachtern des gegenwärtigen Krisengeschehens dürfte der akademische Feinsinn der damaligen Debatten endgültig ewiggestrig anmuten: Ein Staat, der den Rubel seiner Steuerbürger gleichsam schubkarrenweise dorthin rollen lässt, wo Not am Bankier und demnächst auch am Fabrikherrn ist, sollte wohl mit einigem vorwissenschaftlichen Re
Recht beim Namen – und also kapitalistisch – genannt werden dürfen.Währungsschnitt im KopfEine der genialen Wortschöpfungen von Erika Fuchs, der langjährigen deutschen Stimme Entenhausens, erscheint heute als der dem munteren Treiben staatlicher Kapitalsanierer allein angemessene Terminus: Da werden schwächelnden Instituten und kränkelnden Unternehmen von der endlich wieder sichtbaren Hand des Staates tatsächlich Fantastilliarden-Beträge zugesagt, zugesteckt und zugeschossen; wird der öffentliche Geldspeicher in einer Weise geöffnet, die nicht nur dem knauserigen Onkel Dagobert Hören und Sehen vergehen lassen hätte.Nur wer im Kopf selbsttätig – wie es sich heute gehört – den Währungsschnitt macht und drei bis sechs Nullen der kursierenden Summen streicht, vermag die Höhe der durch „den Finanzminister“, also irgendwie von uns allen, zu deckenden Buchverluste einer Bankenholding mit Sitz in München überhaupt noch in sein abstraktes Vorstellungsvermögen zu integrieren. Eine Bank, bei deren Namensnennung noch vor wenigen Wochen der lesende Arbeiter verständnislos „Hypo what?“ gefragt und hinter dem Wortungetüm allenfalls einen noblen Immobilienmakler auf Mallorca vermutet hätte, lernen wir nun als hochgradig „relevanten Akteur“ im Finanzierungsnetz des (es darf offensichtlich wieder gesagt werden:) Systems kennen.Und plötzlich zittern wir kollektiv um das Schicksal des dubiosen Kreditinstituts und wissen, dass vielleicht allenfalls noch Serengeti, keinesfalls aber HRE sterben darf – in unser aller Interesse, versteht sich.Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als selbst die geringsten und billigsten politischen Aktivitäten zur Ausweitung staatlicher Sozialleistungen reflexartig mit der rhetorischen Keule eines sich vermeintlich in „sozialen Wohltaten“ ergehenden Staates, die schlechterdings „nicht finanzierbar“ seien, traktiert wurden? Ich auch kaum mehr. Aber rekapitulieren wir noch einmal kurz gemeinsam:Wie lange hat es gedauert, bis den Demenzkranken – Träger eines der bedeutsamsten „neuen sozialen Risiken“ überhaupt – Zugang zur komplexen Anspruchsberechtigungswelt der Pflegeversicherung gewährt wurde? Mit welcher „Grundsicherung“ wird die durchschnittliche längerfristig erwerbslose und arbeitssuchende Mitbürgerin abgespeist – und muss dafür alle möglichen und unmöglichen Gängelungen und Repressionen der Arbeitsverwaltung über sich ergehen lassen? Während ihr im Zweifel auch noch von Münchner oder Chemnitzer Ökonomieprofessoren gepredigt wird, dass sie in relativem Luxus lebe und sich durchaus noch weiter bescheiden, in jedem Fall aber mehr anstrengen könne? Wie war das noch mal mit der politischen Anrufung der privaten Haftungspflicht der Betroffenen, die es in allen Bereichen sozialstaatlichen Handelns – von der Riester-Ersatzrente im Alter bis zur Praxisgebühr und zahllosen Zuzahlungen im Gesundheitswesen – auszuweiten, zu fördern und vor allen Dingen zu fordern, gelte?Nun, zu unser aller Beruhigung sind diese Stimmen auch in Zeiten anderweitig fröhlichen Finanzgebarens des Staates nicht völlig verstummt. Kaum wird die – aus einer keinem Normalsterblichen nachvollziehbaren Berechnungsformel resultierende – Steigerung der Altersbezüge in der Gesetzlichen Rentenversicherung um 2,4 Prozent im Westen beziehungsweise „sogar“ 3,3 Prozent im Osten der Republik „mitten in der Wirtschaftskrise“ angekündigt, da meldet sich der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages zu Wort und deckt das sozialpolitische Skandalon auf: Dass die zu der „satten Erhöhung“ beitragende zweijährige Aussetzung des rentensteigerungsdämpfenden „Riester-Faktors“ die ungeheuerliche Summe von 12 (in Worten: zwölf) Milliarden Euro bis 2013, also auf fünf Jahre verteilt, koste!Der frühere oberste Wirtschaftsweise Bert Rürup, der mittlerweile bei dem nicht ganz vollseidenen „Finanzdienstleister“ AWD als Berater ein schmales Alterssalär zur Aufstockung seiner begrenzten Pensionsansprüche bezieht, gibt sich da generöser, denn die Erhöhung passe – lassen wir sozialpolitische Fragen einfach mal beiseite – in die „konjunkturpolitische Landschaft“. Allerdings, forderte Rürup, müsse die nächste Regierung die rentenpolitische Standhaftigkeit zeigen, zu der sich die gegenwärtige nicht habe durchringen können.Frohe SeniorenbotschaftAn der Sozialstaatsfront bleibt mithin, so will es scheinen, alles beim Alten: Hier sind jene Kassen, die zur selben Zeit an anderer Stelle zu sprudeln gar nicht mehr aufhören wollen, immer und grundsätzlich knapp. In den streitlustigen siebziger Jahren verlief eine weitere akademische Kampflinie entlang der – letztlich gegen den sozialdemokratischen Reformismus gerichteten – These von der „Sozialstaatsillusion“. Wonach sozialpolitische Intervention im Kapitalismus auf nichts anderes als die nachträglich-notdürftige Kontrolle über die naturwüchsige Gestalt des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ziele, ja zielen könne, und ihre Grenze notwendig dort finden müsse, wo ansonsten die Produktion von Mehrwert nachhaltig gefährdet wäre.Über die Triftigkeit dieser These ließe sich, etwa am Beispiel der jüngsten Rentenerhöhung, heute immer noch und vielleicht mehr denn je trefflich diskutieren. Allein: Es scheint sich im politischen Raum niemand zu finden, der sich für eine solche Grundsatzdiskussion überhaupt hergeben wollen würde. Die „Gier der Manager“ anzuprangern, die Gehälter der Winterkorns und Abfindungen der Zumwinkels zu skandalisieren scheint das höchste der kapitalismuskritischen Gefühle zu sein. Aber an die Doppelzüngigkeit der staatlichen Politik, an die politischen Zusammenhänge von Finanzmarktblase und Sozialstaats- „Krise“, letztlich an die Funktionslogik des Gegenwartskapitalismus möchte in der parlamentarischen Arena niemand, und sei es auch nur argumentativ, rühren.So kann der zuständige Bundesminister die frohe Seniorenbotschaft von den größten (er wollte wohl sagen: tatsächlich ersten) Rentenzuwächsen seit vielen Jahren in der abendlichen Tagesschau als einen „schönen Beweis“ für „die Kraft des Sozialen in unserer Marktwirtschaft“ verkünden. Und der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei an selber Stelle knallhart dagegenhalten, dass aber „eine Rentenerhöhung von vier Prozent angemessen“ gewesen wäre. Auf der Website der Partei des Dietmar Bartsch kann man unter dem Motto „Original sozial“ weiterlesen, wie eine „andere, bessere Gesellschaft“ zum Beispiel in Sachen Rente auszusehen hätte: „Sie muss den Lebensstandard im Alter sichern und langjährigen Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern eine Rente deutlich oberhalb des Grundsicherungsniveaus bieten.“Bismarck returns: In der „schwersten Wirtschaftskrise Deutschlands seit 1945“ (Angela Merkel) streift die Linkspartei das schwarze Junker-Kostüm über und schreitet zur Rettung der guten alten, „statussichernden“ Rentenversicherung – und damit, im Klartext, zur Verteidigung des am stärksten soziale Ungleichheit produzierenden und reproduzierenden Alterssicherungssystems Europas. Die Linke stellt auf diese Weise zumindest probehalber schon einmal den besseren Bundessozialminister – ein schöner Erfolg in rauen Zeiten.Fazit des Krisenwinters 08/09: Der Staat spielt Dagobert, der Milliardenakrobat (Lustiges Taschenbuch Nr. 53) – und alle, einschließlich der parlamentarischen Linken, starren sprachlos-fasziniert in die Zirkuskuppel. Kein Wunder, dass im Internetauftritt der Linkspartei unter der Rubrik „Positionen“ – von A bis Z geordnet – sich unter K kein Eintrag zum Thema „Kapitalismus“, wohl aber zu „Kleingärten“ findet. Das finden Sie jetzt gemein? Nun ja: Die Forderung nach „Standortsicherheit für Kleingartenanlagen“ ist ja durchaus bedenkenswert. Und irgendwie passt sie eben ins Bild der Zeit.Apropos Bilder: In Alexander Kluges klassischem politischem Film Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos aus dem Jahr 1968 (sic!) stellt die desillusionierte, am Markt scheiternde Akrobatentochter pragmatisch fest, dass man nur als Kapitalist das ändere, was ist – „die Utopie wird immer besser, während wir auf sie warten“. So wird es wohl auch heute noch gesehen.
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