Dahinten zieht die neue Zeit

Sozialdemokratie Nicht in Hartz IV, sondern im Paradigma des Besser, Schneller, Weiter liegt die Wurzel der sozialdemokratischen Identitätskrise

"Mit uns zieht die neue Zeit“, singen die Sozialdemokraten zum Abschluss ihrer Partei­tage – sicherlich auch am Sonntag wieder in Berlin. Wie anachronistisch: Sind doch jene Tage, an denen die alte Arbeiterpartei noch voller Überzeugung ihre Lieder schmetterte, ebenso passé wie die Vorstellung, per Parteitagsbeschluss die Herstellung neuer Zeiten auszurufen. Zeitgemäße Politik scheint sich längst nicht mehr am „Immer vorwärts!“ der Industriemoderne und ihrem programmatischen Anspruch permanenten Fortschritts – kurz: Modernisierung – zu orientieren. Sie gleicht bestenfalls einem leidlich informierten Durchwurschteln.

Wer wissen will, was das Programm gesellschaftlicher Modernisierung ausmacht, werfe bei Youtube einen Blick auf die Werbespots der Genossen aus den sechziger Jahren. Niemand verkörperte die Aufstiegs- und Fortschrittsverheißung der Nachkriegszeit so adäquat wie die SPD Willy Brandts. In ihr verband sich technokratischer Machbarkeitsglaube mit dem emanzipatorischen Anspruch der sozialdemokratischen Gesellschaftsvision. Wissenschaft und Technik würden „mutig und ohne ideologische Vorurteile“ gefördert, ebenso wie „optimale Bildungsmöglichkeiten“ für „die Welt von morgen“. Mehr und besser – wiederholt taucht diese Kurzformel auf, während im Bildhintergrund Flugzeuge, Mondraketen, Labors und Förderbänder vorbeiziehen. Mehr und besser, mit dem Klang von mehr gleich besser, das ist die Formel des Modernisierungs-Projekts.

Autobahn und Kohleförderung

Zweifel daran gab es zwar schon zu Beginn der siebziger Jahre. Doch ist die SPD die Partei, die am anfälligsten für diesen Sound geblieben ist. Auch Gerhard Schröder hat dieses Selbstverständnis keineswegs zertrümmert. Indem die Partei den visionären Anspruch des von ­Oskar Lafontaine inspirierten Berliner Programms von 1989 schon 1999 aufgab, brach lediglich die ohnehin schwächere Säule des Selbstverständnisses ein. Übrig blieb das Paradigma des Besser, Schneller, Weiter. Hier – und nicht in Agenda 2010 und Hartz IV – liegt die Wurzel der sozialdemokratischen Identitätskrise. Sie ist im Kern identisch mit der Krise des Modernisierungsprojekts aus Autobahnbau und Kohleförderung. Dass die SPD ihr Verhältnis zu den rot-grünen Jahren nicht geklärt hat, mag also zu ihrer Orientierungslosigkeit beitragen. Der diffuse Umgang mit Schröders Erbe verdeckt jedoch das tiefer liegende Pro­blem, das die Sozialdemokraten zwar nicht allein, aber in besonderer Weise ­haben: Das modernistische „Weiter so!“ steckt der SPD tiefer in den Knochen als allen anderen Parteien. Auch deshalb wirken ihre Ideen so abgenutzt, ihre Führungsfiguren so ausgelaugt, ihre Siege so schal.

Die alte Tante SPD trägt schwer an ihrem modernistischen Selbstverständnis. Sie wird, nachdem sie zuerst die Grünen und die ökologische Frage an sich vorbeiziehen ließ, danach die Linken und die neue soziale Frage, auch von der Merkel-CDU angenagt. Die anderen Parteien sind nicht zukunftsfester als die SPD, aber sie haben entweder mehr Bündnisoptionen und sind daher beweglicher (CDU, Grüne) oder sie betreiben Klientelpolitik (FDP, Linke).

Die SPD muss sich von der romantischen Kohlekumpelmentalität und von der Großprojektitis des 21. Jahrhunderts lösen, Ökonomie und Ökologie zusammendenken, ohne Heuschreckenpropaganda die Solidar-Idee revitalisieren. Sonst wird die neue Zeit bald weiterziehen – weit weg von der SPD.

Christian Dries lebt und arbeitet als Wissenschaftler, Autor und Journalist in Karlsruhe und Freiburg

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