Daniel Barenboims Nachfolge an der Berliner Staatsoper: Lieber ein Genie!
Staatsoper Seit Christian Thielemanns fulminantem Wagner-Dirigat an der Staatsoper Unter den Linden, ist er Kronprinz per Akklamation des erkrankten Daniel Barenboim. Der konservative Berliner gilt als unbequem. Gut so!
Die Hände zum Himmel: Daniel Barenboim bei einem Open-Air-Konzert auf dem Bebelplatz in Berlin
Fotos [M]: Omer Messinger/Getty Images
Kabalen um Karrieren an der Oper sind ein legendärer Stoff. Es geht nie allein um Kunst. Der berühmte Satz von Elias Canetti erlangt gerade in Berlin nicht nur im Orchestergraben Bedeutung: „Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck von Macht als die Tätigkeit des Dirigenten.“ Der vor achtzig Jahren in Argentinien geborene Dirigent Daniel Barenboim ist der mächtigste in der Welt der Klassik, obwohl er gerade gar nicht mehr dirigieren kann, so schwer ist er erkrankt. Sein Amt als Chefdirigent der Staatskapelle Berlin hat er seit 2000 auf Lebenszeit inne. Es ist immer noch zweitrangig, wer gerade unter ihm Intendant an der Staatsoper Unter den Linden ist. Er hat immer bestimmt, wer in welchen Werken auftritt. Auch bei der Wahl seines eigenen Nachfolgers mischt e
t er zweifellos mit; und die ist bereits heftig im Gang, auch wenn Barenboim – hoffentlich – genesen sollte.Seine Autorität hängt nicht allein von der Aura des bewunderten Pultstars ab, der in den vergangenen drei Jahrzehnten die Staatskapelle zum neben den Wiener Philharmonikern besten Opernorchester der Welt geformt hat. Sein Einfluss kommt auch vom einzigartigen Netzwerk. Nicht wenige seiner musikalischen Assistenten hat Barenboim in Schlüsselpositionen befördert oder vermittelt. „Seine“ Leute sitzen überall. Einer von ihnen ist Christian Thielemann.Er ist nicht der Einzige, der als Nachfolger infrage kommt. Aber es wird gewiss ein ehemaliger Mitarbeiter Barenboims sein, einer, der mit der speziellen Orchesterkultur der Berliner Staatskapelle, mit dem „deutschen Klang“, wie Barenboim ihn definiert, vertraut ist. Da gibt es noch andere Namen. Der Schweizer Philippe Jordan zum Beispiel, der als Musikdirektor der Wiener Staatsoper alsbald aufhört.Haushoher Favorit aber ist der in West-Berlin geborene Thielemann, 63, einst mit 17 Jahren schon Herbert von Karajans Assistent und nun selbst bereits eine umstrittene Legende. Als Konkurrent Barenboims an der Deutschen Oper war das Verhältnis der beiden zueinander lange getrübt, dem konservativen Berliner wurden gar antisemitische Reflexe gegen seinen jüdischen Mentor angedichtet. Er tappte in manches Fettnäpfchen. Aber das ist lange her. Thielemanns Talent für Wagners Tristan hat Barenboim versöhnt. Was die beiden eint, ist ihr geniales Gespür für die ganz großen romantischen Brocken deutscher Bauart. Der Maestro bat Thielemann, für ihn einzuspringen beim monumentalen Hochamt, dem neuen Ring des Nibelungen an seinem Haus. Seither liegt das Berliner Publikum dem begnadeten Thielemann zu Füßen, und die Staatskapelle folgt ihm blind. Man könnte sagen, er ist Kronprinz per Akklamation.In der Tat: Kein anderer bringt die gewaltigen Spannungsbögen vor allem Richard Wagners und Anton Bruckners beeindruckender zum Tönen. Dafür lieben ihn auch die Wiener Philharmoniker, mit denen er bei den Salzburger Festspielen triumphierte, dafür sammelt er überall Begeisterungsstürme, jüngst auch in den USA. Selbst in Bayreuth erntete er im Sommer mit einem unerhörten, konzertanten Parsifal Ovationen, obwohl er auch dort als Musikchef nicht verlängert wurde, weil er sich mit Katharina Wagner nicht verträgt. Das mit den Spannungsbögen lief bei ihm persönlich an allen Orten ähnlich ab. Sie wölbten sich beeindruckend in die Höhe, brachen dann aber jäh ab, ob in Nürnberg, Berlin, Bayreuth und zuletzt in Dresden. Dort wurde er von einer CDU-Kulturministerin als Generalmusikdirektor vergrault. Auch wenn eigenen Angaben zufolge sein Terminkalender bis 2027 voll ist, hat er, wenn nichts Neues kommt, ab 2024 keinen festen Posten mehr. Warum?Zu deutsch, zu unmodernGegen ihn wird vorgebracht, dass er eher gestrige Vorstellungen von der Zukunft der Oper vertrete. Ein schmales Repertoire, Überwältigungsästhetik, zu viel deutsche Romantik, zu wenig Moderne. Aber es geht eben nie nur um Kunst. Thielemann hat sich den Ruf eines Unbequemen redlich verdient. Er eckt an, provoziert. Immer wieder hat er auch gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie opponiert. Kritiker halten ihn für superdeutsch und reaktionär. Es sind alte Klischees. Dabei passt er in keine Schublade, schon gar nicht in eine politische. Er ist als Künstler verstörend kompromisslos und nicht immer ein angenehmer Mensch. Thielemann schwebt nicht auf den Flügeln des Zeitgeists herein.Der hat sich dahingehend entwickelt, dass die Pult-Götter vom Olymp gestoßen werden, auf dass alles jünger, weicher, demokratischer werde. Aber die Staatsoper braucht keinen kulturpolitisch affinen Vertreter der Stadtregierung. Lieber ein widerborstiges Genie als einen seiner Nettigkeit wegen beliebten Sachwalter klassischer Musik, der alles vom Blatt spielt, was man ihm aufs Pult legt. Besser einer wie Thielemann, der als internationale Größe leuchtet, an dem Publikum und Kritik sich reiben und abarbeiten können.Barenboim ist auch nicht bloß geschmeidig, aber er hat der Stadt so viel internationalen Ruhm eingebracht, dass man ihm alle Wünsche von den Lippen abliest. Seine eigene Akademie für Nachwuchsmusiker aus dem Nahen Osten mit dem Pierre-Boulez-Saal steht dafür. Sein Votum für den eigenen Nachfolger wird niemand ignorieren können. Christian Thielemann, mit dem nun verhandelt wird, ist alles andere als ein Barenboim-Imitator. Aber der mit Abstand beste Dirigent, der zu haben ist.
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