Dank Deutscher Bahn: Penis-Schau in Karlsruhe statt Christoph Marthaler in Basel

Theater Eigentlich wollte sich unsere Kolumnistin in der Schweiz die Premiere der Kriminalgeschichte „Der letzte Pfiff“ ansehen. Dann landete sie durch einen Triebwerkfehler in einer ganz anderen Inszenierung
Ausgabe 16/2022

Neulich begab ich mich für diese Kolumne auf den weiten Weg in die Schweiz zum Theater Basel. Dort stand eine Premiere von Christoph Marthaler an, der unter anderem dort in den 80er Jahren seine Karriere begann. Nun sollte er also zum Ort des Geschehens zurückkehren, und zwar mit einer Kriminalgeschichte: Der letzte Pfiff.

Ist ja alles gut und schön, werden Sie denken: war es aber nicht, denn es ereignete sich eine dramatische Wende, herbeigeführt durch die Deutsche Bahn, die meinen eigentlich gut auf der Strecke liegenden ICE plötzlich anhielt und kundtat, die Fahrt werde wegen eines Triebwerkfehlers nicht fortgesetzt.

Da stand ich nun am Bahnhof in Karlsruhe und wäre wohl verzweifelt, wenn es in Deutschland nicht diese einmalige Theaterdichte geben würde, sodass ich einfach schnurstracks ins Staatstheater Karlsruhe rannte und noch locker einen Platz für eine Vorstellung von [Blank] von Alice Birch bekam – inszeniert von der dortigen Schauspieldirektorin Anna Bergmann, die 2018 den Coup gelandet hatte, zu ihrem Amtsantritt eine Regiefrauenquote von 100 Prozent einzuführen. Es gibt Menschen, die finden ihre Inszenierungen ungeheuer emotional und aufwühlend, Freitag-Kritiker Björn Hayer schrieb zum Beispiel nach der Premiere von [Blank], die Inszenierung sei eine „buchstäbliche Zumutung“, aber als solche fantastisch (Ausgabe 7/2022). Mir geht es leider gar nicht so. Mich stört, dass es bei Bergmann häufig um letztlich stereotype Frauenprobleme geht.

Auch der Text von Alice Birch zu [Blank] geizt nicht mit allgemeiner Männergewalt und einem Sozialstaat, der die Opfer im Stich lässt. Doch weil die meisten Schauspieler*innen an diesem Abend immer ein bisschen zu drüber sind und Perücken tragen, die ganz doll nach Perücken aussehen, wirkte das Ganze auf mich wie eine übertrieben erscheinende Telenovela aus dem Ausland, deren kulturelle Codes man nicht versteht. Bis zum zweiten Teil jedenfalls, da ging es an den gedeckten Tisch einer Kulturelite irgendwo in Berlin-Kreuzberg und die Schauspieler*innen waren, bis auf eine Figur, alle nackt. Nun ist Nacktheit auf der Bühne ein gerne eingesetztes Mittel, um Verletzlichkeit zu zeigen oder, genauer, ein traditionell von männlichen Regisseuren gerne eingesetztes Mittel, um die Verletzlichkeit der weiblichen Figur zu zeigen, und daher als solches etwas suspekt und abgenutzt. Doch gerade dieses „male gaze“ ist Bergmann doch eher unverdächtig – was also hatte die Nacktheit hier zu bedeuten? Ist es eine Art von umgedrehter Machtreflexion, dass es jetzt die Regisseurin ist, bei der die Männer ihr Geschlecht in die Bühnengegend halten müssen (denn die Frauen haben teilweise Schürzen um oder hauchdünne Schlüpferchen)? Oder soll die Szene eine gewisse Gesellschaftsschicht konsequent bloßstellen in ihrer Ignoranz und Selbstherrlichkeit? Soll vielleicht die Art, wie Männer hier so breitbeinig dasitzen und sich den Bauch reiben, durch die Nacktheit endgültig der Lächerlichkeit preisgegeben werden?

Nun ist es allerdings anstrengend, andauernd auf der Metaebene zu verweilen, und so endete das Ganze damit, dass ich im Schutz der Dunkelheit ausgiebig die Körper besah, die verschiedenen Brust- und Penisformen und was man halt so guckt. Und dann habe ich darüber nachgedacht, dass diese Schar von Nackigen eigentlich ein ulkiger Schock ist, heutzutage, wo man ja schon im Alltag über nackte Gesichter ohne Maske erschrickt. Und dass nackte Körper in diesem Zusammenhang, nach und mitten in der Pandemie, ja fast schon etwas Utopisches darstellen. Da war also doch noch ein schöner Gedanke an diesem Abend: über die paradiesische Nacktheit und die Freude, das mal wieder im Theater zu sehen.

Die Premiere in Basel soll übrigens gar nicht so toll gewesen sein.

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