Seit vielen Jahren beobachtet Gregor Gysi die EU. Ihre Bedeutung für den Zusammenhalt Europas steht für ihn außer Frage. Gerade deshalb ist er auch einer ihrer scharfsinnigsten Kritiker.
der Freitag: Ist die Abstimmung über den Brexit eine gute oder eine schlechte Sache?
Gregor Gysi: Ich habe nichts gegen Volksentscheide, wenn die Leute ausreichend darüber informiert sind, worum es geht. Einen Volksentscheid zur Aufnahme in die EU werde ich immer begrüßen, einen zum Ausstieg weniger. Aber dieses Plebiszit wurde so von den britischen Konservativen den Bürgern versprochen, nun müssen sie damit leben, sich möglicherweise selbst eine Falle gestellt zu haben.
Welche Falle?
Nun, Premierminister David Cameron will in der EU bleiben, große Teile seiner Partei nicht, das droht die Tories zu zerreißen. Außerdem liegen die Brexit-Befürworter in mehreren Umfragen vorn. Wer hätte sich das vor ein paar Monaten vorstellen können?
Wäre ein EU-Ausstieg Großbritanniens nicht auch eine Chance für die Rest-EU, wieder enger zusammenzurücken?
Nein, ich rechne eher mit einer Kettenreaktion. Sollte es zu einem Brexit kommen, wird es auch andere Länder geben, die mit Austritt drohen. Mögliche Kandidaten sind Polen oder Ungarn, obwohl die viel Geld zu verlieren hätten, sollten sie die EU verlassen. Die eigentliche Katastrophe steht uns 2017 bevor, wenn in Frankreich wieder Präsidentenwahlen sind. Es gibt sicher viele Unterschiede zwischen Linken und Rechten. Einer davon ist, dass die Rechten alles umsetzen, was sie ankündigen. Das wird Frau Le Pen nicht anders halten. Sie hat erklärt, die EU verlassen zu wollen. Also wird sie das tun, wenn sie gewählt wird.
Hat die Brexit-Debatte Erpressung gesellschaftsfähig gemacht?
Leider ja. Sicher muss man als EU-Mitglied dazu auch das nötige Gewicht haben. Als kleines Land kann man nicht so viel in die Waagschale werfen. Es hat sich bei Großbritannien doch gezeigt, wie es läuft: Cameron hat gesagt, unter den gegenwärtigen Umständen könne er einen Verbleib in der EU nicht garantieren. Dann wurden auf seinen Wunsch die Sozialstandards gesenkt. Der eigentliche Sündenfall war, dass die EU darauf einging und sich so als erpressbar erwiesen hat. Diese Methode wird gerade auch Schule machen, sollte die Mehrheit der Briten entscheiden, in der Union zu bleiben. Aber das alles ist nichts verglichen mit einem Frankreich, das 2017 unter die Führung von Marine Le Pen gerät und die EU verlässt.
Dann ist die EU tot?
Absolut tot.
Zur Person
Gregor Gysi, geboren 1948, hat als Politiker schon viele Ämter bekleidet: Parteivorsitzender, Berliner Wirtschaftssenator, Fraktionsvorsitzender. Gegenwärtig ist Gysi einfacher Bundestagsabgeordneter der Linkspartei
Foto: Star-Media/Imago
Was spricht denn gegen die EU?
Eine ganze Menge: Sie ist nicht demokratisch, nicht sozial gerecht, nicht ökologisch nachhaltig, nicht bürgernah. Es ließe sich noch mehr aufzählen. Aber gravierend ist für mich eine ganz andere Frage. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Jahrhunderte davor waren geprägt von Kriegen zwischen den heutigen Mitgliedsstaaten der EU. Und ich garantiere Ihnen, wenn die EU passé ist, haben wir spätestens zehn Jahre danach wieder bewaffnete Konflikte in Europa. Die ökonomischen Unterschiede und Ungerechtigkeiten zwischen den Staaten werden rasant wachsen. Es gibt dann keine EU-Kommission mehr, deren Job es ist, das auszugleichen. Es gäbe eine kaum mehr steuerbare Rückkehr zum alten Nationalstaat. Schon das verschafft mir ein ungutes Gefühl. Wenn du ständig Konflikte mit einem Nachbarn hast und es kein Gremium gibt, um die gemeinsam zu lösen, hören Männer auf ihr Militär, das ihnen erzählt, dem Nachbarn überlegen zu sein. Und dann geht der ganze Mist, von dem wir gedacht hatten, dass Europa ihn hinter sich gelassen hätte, wieder von vorn los.
Warum so pessimistisch? Die meisten EU-Staaten sind Mitglieder der NATO. Die werden sich doch nicht gegenseitig angreifen.
Da haben Sie recht, obwohl die NATO-Länder Griechenland und Türkei schon mal an der Schwelle zum Krieg gestanden haben. Aber Sie dürfen trotzdem eine Veränderung nicht vergessen: Die NATO hat nicht mehr den früheren Zweck. Es gibt nicht mehr den gemeinsamen Feind. Außerdem merken langsam auch einige europäische Politiker, dass sie andere Interessen haben als die USA.
Wäre es ein Weg, die EU auf Staaten zu begrenzen, die wirklich ein Interesse an ihrem Erhalt haben?
Damit beschreiben Sie das Ziel von Finanzminister Wolfgang Schäuble, der seit längerem für ein Kerneuropa plädiert. Nur: Falls Frankreich ausscheidet, hätte sich auch das ohnehin erledigt. Und Schäuble leistet ja durch seine Austeritätspolitik indirekt seinen Beitrag dazu. Durch die europaweite Sparpolitik kommt Frankreich wirtschaftlich nicht auf die Beine. Das schadet Hollande und nützt Le Pen. Davon abgesehen glaube ich, dass der Rückbau auf ein sogenanntes Kerneuropa nicht funktioniert. Man kann auch nicht die UNO gründen und dann sagen, da sind jetzt so schwierige Staaten dabei – die schmeißen wir raus, damit unser Leben einfacher wird.
Also gibt es zur EU der 28 keine Alternative?
Ja, wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die alten Nationalstaaten einzeln ein viel geringeres Gewicht hätten, als es die EU immer noch vorweisen kann. Wir haben ohne die EU ökonomisch keine Chance gegen China, gegen die USA, nicht einmal gegen Japan.
Trägt auch die Bundesregierung Verantwortung dafür, dass es zu dieser krisenhaften Zuspitzung in der EU gekommen ist?
Zumindest einen beachtlichen Teil der Verantwortung. Sie hat zugelassen, dass Entsolidarisierung und Sozialabbau in der EU stattgefunden haben, so dass viele Briten das vereinte Europa völlig unattraktiv finden. Zumindest eines ist jedoch unbestritten: Die Jugend in vielen EU-Staaten ist europäischer als meine Generation.
Setzen Sie Ihre Hoffnungen auf eine Generation, die sich ein Europa ohne EU nicht vorstellen kann, weil sie ein anderes Europa nie erlebt hat?
Sicher könnte man das tun. Aber die Macht liegt nun einmal noch bei den Älteren, und diese Jugend, auf die Sie anspielen, ist leider nicht sehr rebellisch. Die sind brav, karrierebewusst und zu angepasst.
Der US-Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat gerade in einem Interview gesagt, „wenn ein Land den Euro verlassen soll, dann muss es Deutschland sein. Das wäre ökonomisch am sinnvollsten“. Hat er recht?
Das ist interessant, aber geht nicht. Als der Euro eingeführt wurde, habe ich – bei aller Bescheidenheit – die einzig nennenswerte Gegenrede im Bundestag gehalten. Die Voraussetzungen fehlten damals, wie wir es erlebt haben. Heute ist das anders. Wir müssen die Realitäten zur Kenntnis nehmen. Deutschland ist Exportweltmeister. Stellen Sie sich vor, was passierte, wenn es den Euro aufgeben müsste. Unsere Währung würde massiv aufgewertet werden.
Das hält Stiglitz für die Lösung ...
Nur hätte dies zur Folge, dass unsere Produkte für den Export zu teuer wären, Märkte verloren gingen. Massenarbeitslosigkeit wäre die Folge. Erst müsste die Abhängigkeit vom Export abgebaut werden, was aber lange dauerte. Obwohl es einst falsch war, den Euro und eine Binnenmarktstruktur ohne gemeinsame Steuer-, Sozial- und Finanzpolitik aufzubauen, ist es heute richtig, am Euro festzuhalten. Sonst geht alles den Bach runter. Aber ich verstehe den Frust der Leute gut. Ein Grund für die tiefe EU-Skepsis vieler Menschen ist: Sie leiden unter den Entscheidungen der EZB, die durch nichts demokratisch legitimiert ist.
Wie müsste der Euro reformiert werden?
Es müsste eine gemeinsame Sozialpolitik geben, was auch zu einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik führen würde. Deren Kern sollte es sein, 0,7 Prozent des Inlandsprodukts aller EU-Staaten für Entwicklungshilfe auszugeben, um so die Lage in den Herkunftsländern zu verbessern. Und dann brauchen wir eine Schuldenkonferenz – und zwar für alle Eurostaaten, nicht nur für Griechenland. Dort sollten alle Schulden auf den Tisch und wir Europäer müssten darüber debattieren, welche davon gestrichen werden können und welche nicht. 1952/53 gab es ja etwas Vergleichbares: Die Londoner Schuldenkonferenz, die zur Schuldenentlastung der Bundesrepublik führte. Muss immer erst ein Krieg zu Ende gehen, damit so etwas stattfindet?
Nur sorgte damals der Kalte Krieg für den nötigen Druck zur Einigung. Wo sollte der Druck heute herkommen?
Der ist doch nun wirklich reichlich vorhanden. Die Flüchtlingszahlen, die ungelöste Schuldenkrise, die gefährliche ökonomische Lage in Frankreich, die Erpressungsversuche der Türkei, TTIP. Es ist höchste Zeit für eine Schuldenkonferenz!
Wird sich die Regierung Merkel derart exponieren?
Wozu haben wir eigentlich eine Große Koalition, die über vier Fünftel der Abgeordneten im Bundestag verfügt? Kann man da nicht erwarten, dass sich eine Regierung mit solchem Rückhalt zu einer Reform der Finanzpolitik durchringt?
Als Merkel 2010 die Weichen für ihre Griechenland-Politik stellte, gab es keine AfD. Europapolitisch wird sie nichts riskieren wollen.
Das sehe ich anders. Die AfD ist ja nicht wegen Griechenland so stark geworden, sondern wegen der Flüchtlinge. Aber richtig ist: Die AfD ist eine ernstzunehmende Gefahr, wie die gesamte rechtspopulistische Entwicklung in Europa.
Was tun?
Eigentlich ist es ganz einfach: Die CDU müsste in die Opposition gehen. Nur in der Opposition kann sie die AfD überflüssig machen. Als Regierungspartei nicht, denn als Regierungspartei kann sie nicht den Grad an Verantwortungslosigkeit an den Tag legen, der nötig wäre, um die AfD überflüssig zu machen. Das kann aber natürlich nur dann funktionieren, wenn sich SPD, Grüne und Linkspartei zusammenraufen und ein gemeinsames Projekt finden. Ich gebe zu, das ist nicht ganz einfach.
Ein europäisches Projekt?
Warum denn nicht? Sehen Sie, es liegt doch auf der Hand, dass wir eine andere EU brauchen. Aber die wird es nur mit einem anderen Deutschland geben. Also muss man den Mumm haben, den Versuch zu starten. Für so ein Bündnis müsste man sich über sechs Punkte einigen: Kriegsbeteiligung, Rüstungsexporte, prekäre Beschäftigung, Altersarmut, sanktionsfreie Grundsicherung, ökologische Nachhaltigkeit. Das wäre die Basis für Koalitionsgespräche.
Ist die EU denn reformierbar?
Wir haben schlicht keine andere Wahl. Schauen Sie nach Frankreich, dort gibt es Unruhen wie seit langem nicht mehr. Wenn mir sogar französische Linke sagen, eine Präsidentin Le Pen sei nicht auszuschließen, wird mir ganz mulmig. Aber es gibt eine Hoffnung: Die großen Konzerne lehnen Le Pens Ziele ab, da sie längst global denken und agieren. Andererseits sind sie zu mächtig. Trotzdem muss man das nutzen. Die Linke könnte die Konzerne als Bündnispartner gewinnen.
Wie bitte?
Die Linke muss endlich über ihren Schatten springen. Am Ende geht es doch vor allem darum, mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Dann haben auch die Rechtspopulisten keine Chance mehr. Warum nicht mit den Konzernen, vor allem mit dem Mittelstand sprechen und ihnen sagen: „Ihr habt die Wahl. Entweder Ihr bekommt Le Pen, und die EU ist früher oder später am Ende. Oder ihr seid endlich einverstanden mit einer gerechteren Verteilungs- und Steuerpolitik.“ Würde nur ein Viertel der Konzerne mitmachen, hätte man eine ganz andere Ausgangsposition.
Derzeit wird rechtspopulistischer Raubbau an Europa betrieben. Sollte man dem mehr Linkspopulismus entgegensetzen?
Erst mal brauchen wir eine linke Realität, bevor wir uns so etwas wie Populismus leisten können. Und dann müssen wir es hinkriegen, dass die Leute uns glauben, dass wir ein anderes Europa wollen. Ich würde es auch nicht Populismus nennen, sondern sagen: Wir müssen vereinfachte Übersetzungen mit Beispielen anbieten.
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