Dann geh doch rüber

Neue Heimat Nach der Wende zogen viele Westdeutsche in den Osten. Drei von ihnen berichten, was sie erlebt haben
Ausgabe 39/2018

(c) imago/photothek

Gesine Schwan, geboren 1943 in Berlin, kandidierte 2004 und 2009 für das Amt der Bundespräsidentin

Neun Jahre als Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) waren für mich eine wichtige, prägende und schöne Zeit. Zum einen wegen der Viadrina, die eine Gelegenheit bot und bietet, mit jungen Menschen – und natürlich auch Kolleginnen und Kollegen – für ein demokratisches, freiheitliches und buntes Europa zu arbeiten. An Sinnstiftung fehlt es dieser Uni nicht. Aber neun Jahre in Ostdeutschland haben mir auch einen reichen Schatz an menschlich guten, politisch und psychologisch wertvollen Erfahrungen gebracht. Es ist falsch anzunehmen, dass 40 Jahre unterschiedlicher Lebensweise ohne Spuren bleiben würden. Aber es ist genauso falsch anzunehmen, dass man sich nicht gegenseitig verstehen kann. Es hängt vom Willen (und der Fantasie) ab, sich an die Stelle des anderen zu setzen. Man hat mich oft gefragt, ob ich Ossi oder Wessi sei. Auf meine Gegenfrage „Was denken Sie?“ lautete die Antwort fast immer: „Nicht richtig Ossi, aber auch nicht richtig Wessi.“ „Nicht richtig“ hat mir richtig gut gefallen.

Jan Korte, geboren 1977 in Osnabrück, ist Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Linkspartei

2005 gab es vorgezogene Neuwahlen. Mein damaliger Parteivorsitzender Lothar Bisky bat mich, auf der Landesliste in Sachsen-Anhalt zu kandidieren. Die dortigen Genoss*innen reagierten darauf mit Skepsis – ein Wunder, dass sie angesichts der Verheerungen, die sie zu diesem Zeitpunkt bereits erlebt hatten, überhaupt noch offen für Leute aus dem Westen waren. Um nicht nur in meiner Partei, sondern im Wahlkreis zwischen Bitterfeld-Wolfen und Staßfurt ernst genommen zu werden, musste ich viel lernen, zuhören und begreifen. Zum Beispiel ist das Händeschütteln im Westen nicht üblich. Der Hinweis eines Genossen, dass mein Wahlkreis eine Handschüttel-Gegend sei, hat bei mir als lernwilligem Wessi dazu geführt, dass ich mir diese Kulturtechnik angeeignet habe. Klingt witzig, ist aber wichtig: Zugang zu den Menschen zu bekommen, gelingt nur, wenn man sich in sie und ihre Geschichte hineinversetzt. Vor allem muss man sich für ihr Leben interessieren. Glücklicherweise komme ich mit unterschiedlichen Menschen zusammen und hatte so schon früh die Gelegenheit, das Wessi-Bild von der DDR zu korrigieren. Noch früher habe ich aber begriffen: Besonders wenig brauchen die Menschen im Osten schlaue Hinweise von Wessis.

Axel Schmidt-Gödelitz, geboren 1942 in Sachsen, wuchs im Westen auf und ist Vorsitzender des Ost-West-Forums

Nachdem die Euphorie vorbei war und 1992 die große Enttäuschung kam – auf beiden Seiten –, kam von Wolfgang Thierse der Aufruf: Ihr müsst euch eure Lebensgeschichten erzählen! Durch mehr Wissen, wie die anderen gelebt haben, wie sie geprägt sind, kann man sie verstehen. Auf unserem Familiengut Gödelitz, wo ich herkomme und das in der DDR enteignet wurde, habe ich 1994 die Biografiegespräche ins Leben gerufen: In der Runde sitzen zur Hälfte Ostler, zur Hälfte Westler. Das Prinzip: In Ruhe zuhören, ohne zu unterbrechen, ohne zu werten. Fragen stellen, zur Kenntnis nehmen. Aus meiner Erfahrung gibt es nichts, was in so kurzer Zeit radikal Vorurteile abbaut. Das Kognitive und das Emotionale laufen da zusammen. Man muss die Ursachen rausfinden: Warum reagieren Ostdeutsche so? Erst dann kann man urteilen. Einmal kam eine Ostdeutsche zu uns, die so verbittert war, dass sie mit Westlern gar nicht redete. Auf einmal fand sie die ganz sympathisch. Wir hätten das nach der Wende flächendeckend machen sollen: von Rostock bis Konstanz.

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