Dann gibt es kein Europa mehr

Im Gespräch Der frühere portugiesische Staatspräsident Mário Soares will keinen neuen EU-Vertrag, sondern die Vereinigten Staaten von Europa aushandeln

Auf dem EU-Gipfel Ende Juni war man sich überwiegend einig, einen neuen EU-Vertrag anzustreben, der die gescheiterte Verfassung ersetzt und die Handlungsfähigkeit der auf 27 Staaten gewachsenen Union garantiert. Portugal leitet derzeit als EU-Ratspräsident eine Regierungskonferenz, die bis Ende 2007 ein solches Dokument vorlegen soll. Ob das gelingt, erscheint fraglich.

FREITAG: Die portugiesische Ratspräsidentschaft muss sich mit der Bürde des EU-Vertrages auseinandersetzen, die Angela Merkel als EU-Ratspräsidentin hinterlassen hat. Fühlt sich Ihr Land dem gewachsen?
MARIO SOARES: Es gibt ja noch gar keinen Vertrag. Es gibt nur ein Mandat - und es ist gut möglich, dass Portugal dieser Aufgabe nicht gewachsen ist.

Premier José Sócrates hat aber den erfolgreichen Abschluss der Vertragsverhandlungen zum Prüfstein seiner Ratspräsidentschaft erklärt. Wenn der Vertrag scheitert ...
... dann gibt es kein Europa mehr. Ich persönlich - und da bin ich nicht der Einzige - halte den EU-Vertrag für zu wenig, will Europa zu einem Protagonisten in der Welt werden. Ich wünsche mir die Vereinigten Staaten von Europa als politische und föderale Union.

Lissabon hat mit dem ersten Gipfel EU-Brasilien die Beziehungen zum größten Land Lateinamerikas auf die Agenda gesetzt. Was versprechen Sie sich von dieser Partnerschaft?
Brasilien gehört zu den wirtschaftlich am schnellsten wachsenden Ländern der Erde. Aus der so genannten BRIC-Gruppe - zu der auch Russland, China und Indien gehören - ist es das einzige Land, mit dem es bisher keinen EU-Sondergipfel gab. Brasilien besitzt eine wissenschaftliche und kulturelle Elite, die zu den besten der Welt gehört. Präsident Lula, den ich persönlich sehr gut kenne, sollte der wichtigste Ansprechpartner der EU in Lateinamerika sein. Seine Politik ist ausgeglichen und ohne die Radikalität eines Hugo Chávez oder die Bush-Hörigkeit eines Álvaro Uribe in Kolumbien.

Die Beziehungen Ihres Landes zu Brasilien sind seit jeher ausgezeichnet...
Richtig, wir haben seit mehr als fünf Jahrhunderten besondere Beziehungen. Im 19. Jahrhundert, während der napoleonischen Invasion der iberischen Halbinsel, wurde der Regierungssitz des portugiesischen Imperiums sogar komplett nach Rio de Janeiro verlagert. Von 1807 bis 1821 war Portugal praktisch eine Kolonie Brasiliens, weil sich der gesamte Hof dort aufhielt. Als das Land 1822 unabhängig wurde, fiel kein Schuss.

Spielen solche historischen Gemeinsamkeiten in der Weltpolitik heute noch eine Rolle?
Natürlich war es von Vorteil beim EU-Brasilien-Gipfel Anfang Juli in Lissabon, dass es zwischen dem brasilianischen Präsidenten, dem EU-Ratspräsidenten Sócrates und dem EU-Kommissionspräsidenten Barroso keine kulturelle und sprachliche Barriere gab. Außerdem verstehen wir Portugiesen die Interessen beider Seiten. Beispielsweise die unsinnigen Agrarsubventionen: Eine Kuh kostet in Brasilien weit mehr als in Europa.

Das heißt, als Portugiese fühlen Sie sich Brasilien näher als dem EU-Staat Bulgarien.
Das ist etwas vollkommen anderes. Es gibt keinerlei Widerspruch zwischen dem Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der lusophonen Länder und dem in einem vielsprachigen, multikulturellen Europa.

Nun soll Afrika ein zweiter Akzent bei Portugals Ratspräsidentschaft sein. Wie stehen die Chancen, die Beziehungen der EU mit Afrika zu verbessern?
Zunächst einmal sollten wir Europäer Afrika nicht als Ganzes wahrnehmen, sondern in seiner Diversität. Es gibt dort weniger entwickelte und stärker entwickelte Länder. Was die Entwicklungshilfe angeht - sei sie nun nützlich oder hinderlich - haben wir die schlechte Angewohnheit, Versprechungen zu machen, die wir nicht einhalten. Das wird natürlich von den Afrikanern wahrgenommen.

Mit anderen Worten, Popstars wie Bono und Bob Geldof haben eine höhere Glaubwürdigkeit.
So wichtig deren Aktivitäten sind - sie vermitteln ein einseitiges Bild und suggerieren, Afrikas Elend sei mit mehr Entwicklungshilfe zu überwinden. Aber wir leben in einer globalisierten Welt, die wesentlich komplexer ist. Eine unkontrollierte, desorientierte Globalisierung trägt zur Verelendung großer Bevölkerungsgruppen bei - nicht nur in Afrika, auch in den Ländern des Westens.

China ist in Afrika dabei, Europa den Rang abzulaufen. Profitiert die Volksrepublik davon, dass sie ihr Engagement nicht an politische Bedingungen knüpft?
Wir Europäer sind doch auch nicht besser. Wir haben seit dem Ende des Kolonialismus Geschäfte mit den schlimmsten Diktatoren in Afrika gemacht. Die Konkurrenz mit China sollte aber nicht auf einzelne Aspekte wie den Einfluss in Afrika beschränkt werden. Wir Europäer machen im Moment mit den Chinesen gute Geschäfte, die kurzfristig sehr lukrativ sein mögen, langfristig aber dazu führen werden, dass Europa an Bedeutung verliert.

Europa hat es bisher kaum geschafft, in der Außenpolitik geschlossen aufzutreten. Gegenüber Russland haben immer wieder einzelne Staaten, darunter auch Deutschland und Portugal, versucht, eigene Interessen über die der EU zu stellen.
Genau an diesem Punkt entscheidet sich Europas Zukunft. Wenn wir nach außen nicht gemeinsam agieren, ist der Niedergang Europas besiegelt. Im Moment sehe ich keinen europäischen Politiker, der es wagt, das auszusprechen. Nehmen Sie den Gazprom-Coup des Kanzlers Schröder, der jegliches Gespür für eine EU-Politik vermissen ließ, die diesen Namen verdient. Was er tat, war zugleich ein Schlag ins Gesicht der europäischen Sozialdemokratie.

Das Gespräch führte Daniel Schmidt


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