Dieses Jahr könnte man am 15. Juli Walter Benjamins 125. Geburtstag feiern. Doch bedarf es solch gekrümmter Jubeldaten nicht, zumal dem die Umstände seines elenden Todes 1940 in die Quere kommen, um seiner Gegenwärtigkeit ansichtig zu werden. „Er ist Zeit in dem Sinne, dass wir uns die Epoche ohne seinen Tod in Portbou nicht vorstellen können“ – so emphatisch Lorenz Jäger in seiner Biografie Benjamins. Biografien Benjamins gibt es ja en masse. Um eine weitere vorzulegen, muss man schon gewiss sein, dem „Leben eines Unvollendeten“ – so der Untertitel – eine eigene Perspektive geben zu können. Für Jäger ist das die Prägung durch die Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, bestimmt von bündisch
mt von bündischem Zirkelwesen, Wanderpropheten, esoterisch-theosophischen Lehren, polyhistorischer Bildung und Radikalismen der Endzeiterwartung, der Sehnsucht nach „Wandlung“ und Erlösung. Es ist der an innergeschichtlicher Erlösungstheologie laborierende, an esoterischen Praktiken interessierte Benjamin – Astrologie, Chiromantie, Grafologie, Physiognomie, Traumdeutung. Zugleich Virtuose der Zeichendeutung, fasziniert von Schrift und Schreiben, von der Materialität der Zeichen und der Zeichenhaftigkeit alles Materialen, entwickelt Jäger die intellektuelle Physiognomie Benjamins aus den vielfältigen Konstellationen seiner Freund- und Liebschaften. Naturgemäß spielen Adorno und Scholem ihre Rolle, dazu Benjamins Ehefrauen, Asja Lacis und Brecht, aber zugleich treten unbekanntere, interessante Figuren dazu – Florens Christian Rang, Erich Gutkind oder die niederländische Malerin Anna Blaupot ten Cate, um nur sie zu nennen.Zum besonderen Reiz dieser intellektuell geschärften, aber von keinerlei Benjaminianeresoterik verdunkelten Biografie gehört nicht zuletzt, wie Jäger Benjamin und die Stadien seines Werks von vermeintlich unscheinbaren, tatsächlich aber subkutan leitenden Begriffen her rekonstruiert.An die strenggraue Aufmachung der Kritischen Gesamtausgabe von Benjamins Werken und Nachlass haben wir uns nach einer Reihe von Bänden schon gewöhnen können. Bei den jetzt erschienenen zwei dicken Bänden zu seinen Rundfunkarbeiten hätte man es zumindest bei den Texten selbst – unrealistisch, ich weiß – gerne im Einband bunter und flexibler gehabt. Sie präsentieren nämlich einen heiter-experimentellen, geradezu nonchalant-provisorischen, eben „volkstümlichen“ Benjamin. Als Benjamin von 1927 bis 1933 vor allem für den Berliner, Frankfurter und Südwest-Sender arbeitete, betonte er die schiere Notwendigkeit des Lebensunterhalts. Doch zugleich entwickelte er darin eine entspanntere Sicht auf die Zeit als in seinen spekulativen Arbeiten. Anders als bei diesen von Schriftlichkeitskultur imprägnierten, herrscht hier Mündlichkeit: Sie sind stark dialogisch angelegt, nicht nur in den Hörspielen oder -bildern, sondern selbst in den Vorträgen. Ebenso in den Hörmodellen, die experimentell aufs Alltagspraktische zielten. Dazu bediente Benjamin sich der Formen der Oralkultur: Märchen, Sagen, Anekdoten, Schwankhaftes. Redensarten oder Formeln der Kolportage zitiert er nicht herablassend, sondern voller Respekt vor den mutmaßlichen Adressaten als Experten des Alltags. Kinder zumal, Fachleute für eine andere Sicht der Welt. Und so waren bei ihrem Wiederlesen für mich besonders die Beobachtungen zu Alltag und Geschichte Berlins für Kinder und Jugendliche neuerlich von verlockendem Reiz – eine wunderbar versunkene Welt. Der voluminöse und akribische Kommentarband verdient alle Philologenbewunderung; die 650 Seiten des Textbandes jedoch liefern ein unwiderstehliches Lesebuch der Art, wie meine Generation es noch kannte – ein von der Schule ins Zuhause gelieferter Abenteuerspielplatz.Auch wer den Benjamin der Juvenilesoterik und den des späteren Volontärsmarxismus nicht so schätzt, wem Kult- und Ausstellungswert heute antiquierter erscheint als es die Aura jemals war, wird auf die Denkbilder, die Kondensate der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert und auf die Städtebilder keinesfalls verzichten wollen. Sie gehören zur feinsten Prosa, die das 20. Jahrhundert uns beschert hat. Detlev Schöttker hat Letztere in einem Band neu versammelt und gruppiert. Zunächst ein paar jener Texte vorangestellt, die Wahrnehmungsschulungen auch für die Lesenden sind – Flaneur, Markt, Mietskaserne, Kindheit –, dann Berlin, Paris, Neapel, Marseille, Moskau, Weimar und allerlei andere mehr, schließlich Schlüsseltexte zu Wohnen und Architektur. Eine Besonderheit sei unbedingt gepriesen: die Illustrationen! Zum einen begleiten sie im Briefmarkenformat die Texte, zum anderen bevölkern sie einen Postkartenbildteil, zu dem wiederum Sätze Benjamins als Legenden dienen. Das Wichtigste: Sie sind nahezu alle bisher völlig ungesehen.Theodor W. Adorno hat sechsmal eine Vorlesung über Ästhetik gehalten. In den nun transkribierten Mitschnitten von 1958/59 setzt er seinen etwas paternalistischen posthumen Dialog mit Benjamin fort. Bemerkenswert, wie Adorno um das Verständnis seines studentischen Publikums warb, mit Anekdoten und geradezu humoristischen Exkursen. Es macht den vergnüglichen Nutzen der Lektüre noch heute aus.Placeholder infobox-1
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