Dark Knight Capital

Hochfrequenzhandel Keine Fiktion: Eine Computerpanne bei einem Finanzdienstleister verursacht eine halbe Milliarde Dollar Verlust. Wo ist noch mal der Ausschalter für die Realität?

Wie sieht eigentlich ein gewöhnlicher Mittwochvormittag im Inneren des US-Finanzdienstleisters Knight Capital aus? Vielleicht so: Ab 8 Uhr morgens trudelt das hochspezialisierte Personal ein, jemand macht Kaffee, allenthalben Small Talk. Dann wird der Computer eingeschaltet. Guten Morgen, liebe Bürosoftware, du darfst jetzt deine algorithmische Tätigkeit aufnehmen, während das Humankapital erst mal E-Mails, Facebook, Twitter liest, der Chef hängt ja noch in der Rush Hour fest. Hach, gibt es etwas Schöneres als automatisierten Handel am frühen Morgen?

Am 1. August gegen neun Uhr muss dann jemandem aufgefallen sein, dass das kein normaler Mittwochvormittag ist. Vielleicht hat sich jemand daran erinnert, dass der freundliche Nerd aus der IT-Abteilung gestern noch diese Rundmail geschickt hatte. Irgendwas von wegen Update, Reboot, Optimierung. Weiß man ja nie so genau, was die in ihren Programmierbuden machen.

Spätestens eine halbe Stunde später, als die seltsam alarmierten Kollegen von der Wertpapierbörse nebenan durchklingeln und fragen, wieso man eigentlich dieses bizarre Order-Feuerwerk veranstalte, war dann vermutlich Schluss mit der Routine. Nach Berichten der New York Times gab es da bei Knight Capital nur noch eine Frage: Wo ist der verdammte „kill switch“?

Das Programm steigert sich rein

Weil zwischen 9.30 und 10.15 Uhr leider niemand den Ausschalter fand, verlor Knight 440 Millionen Dollar Kapital und 60 Prozent seines Börsenwerts. Eine neu installierte Handelssoftware hatte sich als „rogue algorithmic trading program“ erwiesen und eigenmächtig Zigtausende Order auf 140 Aktien veranlasst. Bedingt allein durch Knights Aktivitäten lag das Handelsvolumen der Wall Street drei Minuten nach Handelsbeginn um 116 Prozent höher als im Wochendurchschnitt. Um 9.58 Uhr war es sechsmal so groß.

Man muss sich das wohl so vorstellen, dass sich das wildgewordene Programm da ziemlich reingesteigert hat.

Seit dem „Flash Crash“ von 2010 ist „Hochfrequenzhandel“ der landläufige Begriff für computerbasierte, vollautomatisierte Trades. Profite werden hier bei extrem hohen Umsätzen im Millisekundenbereich realisiert, durch komplex vorprogrammierte Transaktionsmuster. Kleiner, weniger wahrnehmbar ist das Intervall zwischen Kaufen und Verkaufen bei keiner Handelsform.

Der Vorsprung der Fiktion

Die Wall-Street-Kommentatoren zeigten sich fassungslos, dass Knight seine Software nicht binnen Minuten unschädlich machen konnte. Als zeitungslesender Laie kann man die realen Praktiken heutiger Finanzökonomie ohnehin nur bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Dann setzt der Verstand aus und das Science-Fiction-Gedächtnis übernimmt: Ein hochentwickeltes Tool macht sich selbstständig, indem es seine Unabschaltbarkeit demonstriert – die Gründungserzählung künstlicher Intelligenz.

Kubricks rotäugiger HAL 9000 ließ sich durch den gezogenen Stecker ebenso wenig beeindrucken wie Ridley Scotts Android im neuen Alien-Prequel Prometheus (S.15). Dass mit Richard Harris’ Hedgefonds-Thriller The Fear Index bereits eine Dystopie der Hochfrequenzhandelswelt vorliegt, sollte niemanden in der Sicherheit wiegen, dass die Fiktion noch einen relevanten Fantasievorsprung vor der faktischen Praxis hat. Eine Frage von Millisekunden. Warten auf den „kill switch“.

Simon Rothöhler gibt die Reihe booklet bei Diaphanes heraus und das Magazin Cargo. Film/Medien/Kultur

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