FREITAG: Worauf führen Sie es zurück, dass Hugo Chávez mit dieser Deutlichkeit gewonnnen hat?
SAHRA WAGENKNECHT: Ich habe bei all meinen Besuchen in Venezuela erlebt, dass Chavez´ Rückhalt in den ärmeren Bevölkerungsschichten unglaublich stark ist. Das ist nicht damit zu erklären, dass - wie oft behauptet wird - dieser Präsident besonders populistisch wäre. Die Menschen spüren einfach, sein soziales Programm nutzt ihnen tatsächlich etwas. Es hat sich gerade für die Ärmsten Wesentliches verbessert. Menschen, die nie einen Zahnarzt gesehen haben, werden jetzt zahnärztlich versorgt. Kostenlos, wie bei anderen gesundheitlichen Leistungen auch. Über eine Million Menschen sind alphabetisiert worden - die Leute spüren: es gibt erstmals eine Regierung, die sie ernst nimmt und sich um ihre Belange kümmert. Diese Erfahrung war entscheidend für den Ausgang des Referendums.
Wie wurde das Ergebnis in Caracas aufgenommen?
Ich war die ganze Nacht nach der Abstimmung im Palacio Miraflores, dem Präsidentenpalast, wo eine riesige Menschenmenge ausharrte, bis die Nationale Wahlbehörde gegen 3.30 Uhr Ortszeit das offizielle Ergebnis bekannt gab. Zuvor kursierten zwar schon diverse Gerüchte, doch als dann endlich Klarheit bestand, fielen sich die Menschen in die Arme, viele weinten vor Freude, andere jubelten, sangen, tanzten. Was sich in diesen Augenblicken abspielte, habe ich so noch nie erlebt. Es war eine emotional ungemein aufgewühlte Stimmung, als Chávez zu sprechen begann. Ihm war anzumerken, wie erleichtert er war, ein derart eindeutiges Ergebnis zu feiern. Ein knappes Resultat hätte zusätzlich für innenpolitischen Zündstoff gesorgt. Die Opposition wäre es erheblich leichter gefallen, das Ergebnis anzufechten.
Die Opposition beklagt dennoch Manipulation - was besagen Ihre Beobachtungen am Tag des Referendums?
Ich glaube, die meisten Oppositionspolitiker hätten ohnehin nur ein Resultat anerkannt, das in ihrem Sinne ausgefallen wäre.
Kann die Gültigkeit angefochten werden, weil Wahllokale teilweise länger geöffnet blieben?br> Wir haben in verschiedenen Vierteln von Caracas Wahllokale besucht und gesehen, dass es durch den hohen Andrang zu unendlich langen Schlangen kam. Das hing einfach mit der hohen Beteiligung zusammen. Da wurde dann auch nicht dichtgemacht, bevor der letzte Wähler seine Stimme abgegeben hatte. Das Wahlverfahren ließ im Übrigen nicht viel Spielraum für Manipulationen - die elektronische Messung kann jetzt mit dem Ergebnis verglichen werden, das die Auszählung der Wahlzettel ergibt.
Nein, diese Regierung hat es gar nicht nötig, über so etwas auch nur nachzudenken. Das zeigt der klare Abstand von über 16 Prozent. Und man sollte nicht vergessen: Dass ein solches Referendum überhaupt möglich war, ist der von Hugo Chávez eingeführten neuen Verfassung zu verdanken. Wo sonst auf der Welt gibt es ein Land, in dem die Bevölkerung nach der Hälfte der Amtszeit ihren Staatschef aus dem Amt jagen kann, wenn sie mit ihm unzufrieden ist. Schröder würde so etwas wohl kaum in Deutschland einführen.
Was sagen andere Wahlbeobachter?
Aufschlussreich fand ich, dass selbst vom Carter-Center - der Beobachter-Gruppe um den ehemaligen US-Präsidenten - schon während des Wahltages erklärt wurde, das Votum nehme einen regulären Verlauf.
Wie bewerten Sie den politischen Stellenwert des Referendums für den bolivarianischen Prozess - ist der Erfolg vergleichbar mit der Abwehr des Rechtsputsches im April 2002 und des Streiks in der Erdölwirtschaft Ende 2002?
Auf jeden Fall. Damit ist ein weiterer Versuch der Opposition gescheitert, diese Regierung zu stürzen und damit eine Politik zu beenden, die nicht dem neoliberalen Mainstream folgt. Der Rückhalt, den der bolivarianische Weg gefunden hat, ist ungeheuer wichtig - zunächst einmal für Venezuela selbst, aber auch Lateinamerika überhaupt. Wäre es gelungen, einen Prozess abzuwürgen, der längst Bezugspunkt für viele soziale Bewegungen ist, wäre das ein enormer Rückschlag gewesen. Man sollte das Außerordentliche dieses Sieges nicht aus dem Auge verlieren: Chávez ist jetzt über sechs Jahre im Amt und musste sich unablässig des Boykotts der Opposition und der Einmischungsversuche Washingtons erwehren, was keine geringen ökonomischen Probleme zur Folge hatte. Wenn er mit einem solchen Ergebnis bestätigt wird, zeigt das auch: Menschen spüren, wenn jemand wirklich eine Alternative vertritt und ernsthaft um ihre Durchsetzung kämpft.
Was ist an diesem Ansatz, wie ihn Chávez und seine Anhänger verkörpern, für jene europäische Linke von Belang, die Sie im Europa-Parlament vertreten?
Da gibt es sehr viel. Unglaublich interessant ist die venezolanische Praxis einer direkten Demokratie, der unmittelbaren Teilhabe der Bevölkerung an politischen Entscheidungen. Die hohe Wahlbeteiligung beim Referendum ist nicht aus dem Nichts entstanden. Sie war möglich, weil die Menschen politisiert wurden und in ihren Barrios wie auf nationaler Ebene weit mehr Rechte erhalten haben als je zuvor. Die bolivarianische Verfassung, die Chávez immer gern bei seinen Reden hochhält, sollte auch in Europa gelesen werden. Nicht zuletzt seine Wirtschaftspolitik sollte die europäische Linke interessieren. Immerhin soll uns eingeredet werden, es gäbe im Zeitalter der Globalisierung keine wirklichen Alternativen mehr. Venezuela ist das seit Ende des Kalten Krieges erste Land, das aus der Logik des neoliberalen Kapitalismus ausgebrochen ist. In Deutschland wird Gesundheit gerade zu einem teuren, für manchen bereits unerschwinglichen Gut. In Venezuela wird erstmals ein kostenloses Gesundheitssystem aufgebaut. Venezuela kontrolliert den Devisenaustausch, statt sich den Launen der Finanzmärkte zu unterwerfen, und hat damit ein gutes Stück Unabhängigkeit gewonnen. Das sind alles Dinge, mit denen sich die Linke in Europa viel ausführlicher beschäftigen müsste.
Das Gespräch führte Lutz Herden
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