Das beharrliche Gedächtnis

In Memoriam Der große DDR-Maler und Querdenker Bernhard Heisig ist im Alter von 86 Jahren gestorben. Christoph Hein über Heisigs Lebensthema am Beispiel von „Beharrlichkeit des Vergessens“

Unser Blick auf die Bilder und Kunstwerke der Zeitgenossen ist ein anderer als der unserer Nachfahren. Die Moden, die Zeiten, die Gesellschaften wechseln und erlauben oder erzwingen andere Einsichten und Wertungen. Vor allem aber unterscheidet sich der spätere Kunstbetrachter von uns durch ein anderes Wissen um Zusammenhänge, durch seine Kenntnis des gesamten Werkes eines Künstlers. Die retrospektive Sicht auf die Kunst vermag anders zu ordnen und einzuordnen, weiß um Abhängigkeiten und Einflüsse, die dem Zeitgenossen verborgen bleiben mussten. Andrerseits kann sie die Aufregungen und Erregungen, die ein Kunstwerk einst auslöste, kaum noch begreifen und registriert sie als eine historische Merkwürdigkeit. Was den Zeitgenossen, was gelegentlich eine ganze Nation begeisterte, bestürzte und bis zur Exaltation trieb, nimmt der Nachfahre nur noch verwundert oder gar irritiert zur Kenntnis.

Denn sein Blick hat, wenn er das einzelne Bild betrachtet, die Gesamtheit eines künstlerischen Werkes vor Augen. Wenn er vor dem Bild eines Goya oder eines Picasso steht, weiß er um die früheren und späteren Arbeiten des Malers. Das Bild wird zum Detail eines Lebenswerkes, die ungewöhnlichste und verstörendste Arbeit bekommt Bezüge zum gesamten Werk, ist verbunden mit allen anderen Arbeiten und erschließt ihm eine andere Sicht. Der Zeitgenosse kann von der machtvollen Gewalt eines Kunstwerkes überrascht und bis zur Hilflosigkeit ergriffen werden, der Nachfahre kann Verbindungen herstellen und Bezüge erkennen, die diese Gewalt in einen Zusammenhang stellt, der die Wucht mildert und andere Erkenntnisse und Deutungen erlaubt. Mit jedem Werk zeigt sich sein Urheber, entblößt er sich, aber erst der Nachfahre kann die einzelne Selbstdarstellung, das jeweilige Detail der Entblößung zu dem Gesamtbild zusammensetzen, dass der Künstler anstrebte, dass ihn zur Arbeit zwang, das aber sukzessive entstand, als work in progress.

Bernhard Heisig hat mit seinen Bildern immer wieder Anstoss erregt, provoziert, verstört. Wenn wir uns heute seine Bilder anschauen, betrachten wir ein Lebenswerk. Und langsam, ganz langsam erschließen sich uns andere, neue Sichten auf Heisig und seine Bilder.

Ich sehe nun etwas, was mir in früheren Jahren und Jahrzehnten entgangen war, was ich damals bei dem oder jenem Bild durchaus registrierte, aber in seiner für Heisig grundsätzlichen Bedeutung übersah. Ich sehe nun - ich sollte sagen: ich glaube zu sehen - beim Betrachten all seiner Arbeiten sein eigentliches Lebensthema. Und ich denke, das ist der Krieg. Der Krieg, die Schlacht, die Verwundung eines menschlichen Leibes, die Verstümmelung des Körpers. Graues Grün und dunkles, schmutziges Oliv, die Farben des Militärs, beherrschen seine Bilder. Die weißliche, mehlige Blässe des menschlichen Körpers, der Haut. Und ein kräftiges, ein aggressives Rot, ein Blutrot. Seine Leiber assoziieren die Schlachtbank, die Körper erinnern an Versehrtheit, an den verbliebenen Teil von Gliedmaßen, an den Stumpf, an den Krüppel. Seine Münder sind zum Schrei aufgerissen und das Rot der Lippen ist erschreckend und schrecklich und lässt eher an eine Wunde denken als an die zärtlichste menschliche Berührung, an einen Kuss.

„Ich lese immer mit Interesse von Leuten“, sagte Heisig, „die im Krieg verändert, gar geläutert wurden. Ich bin solchen nicht begegnet, dafür anderen, die den Krieg abstreifen konnten, wie einen Handschuh, die später sogar als Kriegskrüppel alles verklärt sahen.“

Sein beharrliches Gedächtnis geht gegen die Beharrlichkeit des Vergessens an. Und der in das Bild gemalte Spruch „Wir sind doch alle Brüder und Schwestern“ kann höhnisch in unseren Ohren klingen, sogar bösartig. Es kann aber auch sein, dass es eine naive, fast kindliche Bitte ist. Die Bitte um Nachsicht des Menschen mit dem Menschen: was wollen wir uns denn noch antun?

Krieg und Schlacht waren die Erfahrungen des jungen Heisig, und ich denke sie haben ihn so nachhaltig geprägt, dass sie sein Arbeitsleben bestimmten, seine Bilder, seinen Blick auf den Menschen, auf den menschlichen Körper, auf die Gesellschaft.

Denn Kunst, seine Kunst, alle Kunst ist doch nichts anderes als Gedächtnis und ein wenig Handwerk.

Bernhard Heisig wurde 1925 in Breslau geboren, er war einer der Gründer der LeipzigerSchule. Als Maler, Grafiker und Zeichner wechselte zwischen verschiedenen Formaten und Stilrichtungen, er realisierte Wandbilder, Panoramen und Gemälde, die sich mit historischen Ereignissen, Revolutionen beschäftigten. Er stand sowohl in der Tradition von Kokoschka als auch in der des sozialistischen Realismus, aber er eckte in der DDR imm wieder an. Schon Ende der 70er Jahre schuf er ein Porträt des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Einer seiner Meisterschüler war Neo Rauch, Star der Neuen Leipziger Schule. Aus Unmut und Protest gegen die Politik der DDR- Führung gab Heisig seine Nationalpreise zurück und trat aus der SEDaus. Später erhielt er den (umstrittenen) Auftrag, die Cafeteria des Bundestages im Berliner Reichstag zu gestalten. 2005 eröffnete Gerhard Schröder eine große Retrospektive in Leipzig. Heisig lebte zuletzt zurückgezogen mit seiner Frau im Künstlerdorf Strodehne an der Havel.

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