Das Benjamin-Button-Modell

Bühne Der Feuilletonist Rüdiger Schaper erzählt in „Spektakel“, wie das Theater seit 2.500 Jahren immer jünger wird
Ausgabe 32/2014

Es ist ein schöner, ein guter Einfall. Das Theater wird alt geboren – von Aischylos’ und Sophokles’ Gesichtern haben wir tatsächlich Ansichten von bärtigen weisen Männern. Sie haben die Tragödie schon perfekt in die Welt gebracht. Was vorher beim Dionysos-Kult mehr gesungen und getanzt wurde als gesprochen oder deklamiert, wissen wir nicht. Vermutet wird, dass sich zuerst der Protagonist aus dem Chor gelöst hat und schließlich durch einen Antagonisten herausgefordert wurde. Das Grundmodell war damit jedenfalls fertig.

2.500 Jahre später, so will es der Berliner Theaterkritiker und Tagesspiegel-Feuilleton-Chef Rüdiger Schaper, durchlebt das Theater seine fortschreitende Verjüngung. Musterbeispiel ist der zeit seines Lebens jungenhaft gebliebene Christoph Schlingensief, der freihändig Ritus und postmoderne Übermalungen verbindet und dabei in der Tat Theater spektakelhaft verjüngt.

Es ist das Benjamin-Button-Modell nach der Geschichte von F. Scott Fitzgerald und zugleich ein kulturphilosophischer Purzelbaum: Die Theaterkunst konnte nur in der Verjüngung so alt werden. Im Mittelalter gibt es nicht viel davon, das sind vielleicht die Kinderkrankheiten nach der schönen Geburt in der Antike. Mit der entfalteten Renaissance zeigt es den frühreifen und Tausendsassa-haften Shakespeare-Jüngling – doch halt, der Lebensweg sollte ja genau andersherum gehen, vom Altgeborensein zur ewigen Gegenwartskindheit.

Schaper rechnet vor. Mit Shakespeare ist das Theater in seiner Pubertät, vielleicht 16, und eben deshalb weit weg vom Greis. Es regrediert ja auf seine Kindheit zu. Und nun fragt man sich, ob es wirklich so überzeugend ist, mit dem Benjamin-Button-Modell nicht nur die Theatermacher der Gegenwart mit ihrer altersfernen Vorgeschichte in Beziehung zu setzen, sondern diese Entwicklung auch auf ein greises Baby in der allernächsten Zukunft zulaufen zu lassen. Ein Baby, das mit angeklebtem Sophokles-Bart in die Zukunft krabbelt, wo es dann gänzlich verschwinden müsste.

Momentaufnahme mit Tiefenschärfe

Natürlich ist das Benjamin-Button-Modell eine spektakuläre Krücke, Theatergeschichte einmal anders zu erzählen und vor allem lebendige Porträts aus der Theaterwelt der letzten 40 Jahre aneinanderzureihen. Dimiter Gotscheff (der die Perser des Aischylos in Berlin und dann noch einmal im antiken Theater von Epidauros inszeniert), Heiner Müller, Jürgen Gosch, Patrice Chéreau – Theatergötter unserer Zeit, die nach ihrem Tod sofort vermisst werden. Und vielleicht gewinnt Schapers Modell hier wieder, wenn er damit seinen Lesern nicht das Ende der Kindheit, sondern das einer Theaterepoche vermittelt. Künstler, die mit dem Theater mehr wollten als bloß seine zeitgemäße Verjüngung. Theaterleute, die in antiken Dimensionen für die Gegenwart gearbeitet haben, wie eben auch – der immer voll Begeisterung schildernde Autor bekennt seine anfängliche Irritation – Schlingensief.

Andererseits: Die von Schaper in den 90er Jahren geliebte Volksbühne Frank Castorfs, das Grips-Theater Volker Ludwigs, Robert Wilsons „elektrifizierte Träume“ – das ist ein durchaus subjektiv versammeltes Pantheon mit toten und lebenden Theatergöttern.

Wird man Schapers aktuelle Sicht auf die Theatergeschichte auch in, sagen wir, 20 oder 30 Jahren noch mit Gewinn zur Hand nehmen können, wenn das Benjamin-Baby in seine Zukunftsvergangenheit robbt? Wahrscheinlich doch. Als Momentaufnahme mit Tiefenschärfe, die man dann freilich so wird lesen müssen wie jetzt diese Erinnerungen an eine schon vergangene Zukunft des neueren Theaters.

Spektakel. Eine Geschichte des Theaters von Schlingensief bis Aischylos Rüdiger Schaper Siedler 2014, 352 S., 24,99 €

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