FREITAG: Sie haben kürzlich an der Volksbühne ein Programm veranstaltet mit Filmausschnitten aus Indien und aus der DDR. Es hieß "Am Ende des Ganges". War das ein Versuch, Parallelen zwischen fernem und nahen Osten aufzuzeigen?
JÜRGEN KUTTNER: Ich bin eher zufällig auf Indien gekommen. Dorothee Wenner hat ein Buch geschrieben über eine indische Stummfilm-Stunt-Queen. Und sie hat mich eingeladen, sie in Indien zu besuchen. Das war ein guter Anlass, da mal hin zu fahren. In Indien habe ich viel Fernsehen geguckt und viele Filme und hatte dabei Assoziationen: Das ist doch wie Osten in den 60er Jahren, so komisch utopisch. Da wurde so ne ordentliche, saubere Welt gebaut, dass du denkst, du bist in so nem Alfons-Zitterbacke-Film. Schönes Häuschen, ordentlich eingerichtete Wohnung, Ein-Kind-Familie, Auto. Grund thema: Was fängt man mit all den West-Einflüssen an, die man eigentlich ignorieren will, aber nicht ignorieren kann? Einerseits werden die bedient, aber gleichzeitig auch kritisiert. Das ist ja auch eine DDR-Strategie gewesen.
In Ihrer Reihe "Videoschnipsel" geht es immer auch um Mythen des Alltags und die Analyse von Bildsprachen. Wie sind Sie auf dieses Arbeitsprinzip gekommen?
Anlass war eigentlich der 9. November. Da hat die Volksbühne zum siebenjährigen Jubiläum ein Spektakel veranstaltet und gesagt: Kuttner, mach mal was! Da hatte ich noch den einen Fuß im Fernsehen, und es kam der Vorschlag, etwas mit Fernsehausschnitten zu machen. Da haben wir einfach gedacht, nehmen wir mal ein paar schicke Ausschnitte und führen die vor. Dann kriegte das so eine Eigendynamik. Ich dachte erst: Roter Salon, den bespielst du, kein Problem, aber dann stand ich da im großen Haus vor all den Leuten, da wurde mir auf einmal ganz schön blümerant. Der Ansatz war, Ostmaterial und Westmaterial zu vergleichen. Wenn man da offen rangeht, kommt man schnell in so Täuschungen rein, dass man nicht mehr weiß, wo man eigentlich ist. Ist das jetzt ein West-Ausschnitt oder ein Ost-Ausschnitt? Da siehst du einen Ausschnitt, der ziemlich agitatorisch ist, und denkst, der muss aus dem Osten sein, der ist aber aus dem Westen. Oder du siehst eine bestimmte Modernität in einem Ausschnitt aus den 60er Jahren und bist überrascht, dass der aus dem Osten kommt, weil in der Zeit der Osten viel weiter war, durch den Bitterfeld-Druck. Da fand ein Modernisierungsprozess ein paar Jahre früher statt als im Westen. Solche Verschiebungen zu beobachten, darum geht es auch.
Leiden Sie eigentlich unter einer interpretatorischen Vereinnahmung Ihrer Arbeit, an Vorwürfen von Ostalgie zum Beispiel?
Da bewege ich mich in einem gewissen Dilemma. Kuttner ist auch irgendwie ein Vorzeige-Ostler. Zuschauer, die diese Nostalgie erwarten, die hasse ich eigentlich. Was man sich andererseits heute anhören muss, was der Osten angeblich gewesen ist! Da wird dir am lebendigen Leibe deine Geschichte gewissermaßen umgeschrieben, das ist schon völlig irre. Mir geht es darum, dem eigene Behauptungen entgegen zu setzen. Nicht, dass ich den Osten schön reden will, sondern dass man erstmal ne halbwegs realistische Beschreibung hinkriegt. Oder wenigstens ne in sich widersprüchliche Beschreibung.
Wie wird man zum Vorzeige-Ostler?
Ich bin es vor allem aus Versehen geworden. Das hing mit der Radio-Sendung zusammen und weil ich so ein schlechter Schauspieler bin. Du kommst zum ostdeutschen Rundfunk Brandenburg und sollst ne Sendung machen und hast überhaupt keine Ahnung von dem Medium. Dann tust du so, als ob du Moderator wärst. Aber ich bin einfach zu blöde, um mich zu verstellen und irgend so eine Rolle zu spielen. Und dann hab ich gedacht, das Einzige, was ich machen kann, ich setzt mich da hin und ick bin ick.
Aber diese Ungeschützheit war doch wahrscheinlich genau das, was attraktiv war?
Das hat sicher einen Teil des Erfolgs ausgemacht. Aber so bin ich dazu geworden. Und dann wurmt es einen natürlich schon, wenn man so auf Super-Illu-Level für einen Ostler gehalten wird. Dagmar Frederic und Jürgen Kuttner. Da könnt ich kotzen.
Werden Sie bei Ihren Talk-Sendungen eigentlich auch zu einer Art Kummerkasten?
Diese Kummerkastensache habe ich eigentlich immer zu vermeiden versucht. Was kommt denn da von den Leuten? Da erzählen sie dir, was sie gestern in der Zeitung gelesen haben. Das kann ich selber lesen, das gibt kein Gespräch. Der Ansatz war immer, etwas zu finden, wo die Hörer "ich" sagen müssen, wo sie über ihre Erfahrungen reden. Da landet man dann natürlich im Alltag.
Das ist vermutlich eine recht komfortable Situation, um mitzukriegen, was die Leute gerade bewegt?
Das kriege ich gar nicht so in den Sendungen mit. Klar, das kann man hin und wieder mal resümieren. Aber das ist, glaube ich, eher ne Grundentscheidung, wie man so lebt und wie man sich verhält, wie sehr man auf Sachen achtet und im eigenen Alltag wahrnimmt. Das ist eher die Voraussetzung, um Gespräche mit anderen zu führen.
Wann hat man schon mal die Gelegenheit, eine solche Transformation an sich selbst zu erleben und dann auch noch der Beobachter zu sein?
Das Komische ist, dass es fast keine Öffentlichkeit für solche Erfahrungen gibt. Mal abgesehen von so kleinen Mikroöffentlichkeiten, die man sich selbst organisiert. In den großen Medien vom Spiegel bis zur Zeit, da kommt das gar nicht vor, die leben aus ihrem Hamburg heraus, aus ihrer vierzigjährigen westdeutschen Tradition, die ich ihnen ja gar nicht wegnehmen will. Wenn man sieht, wie der Spiegel über die Ostdeutschen schreibt, dann sieht man natürlich, wie kalkuliert das ist, da kannst du dir doch nur an die Birne fassen. Grad letztens, da hat einer über die armen Westler geschrieben, die wieder zurück ziehen. Solche Geschichten müssen dann immer über diesen Hamburg-Stiefel gezogen werden, damit ja keine Verunsicherung beim Leser eintritt.
Was haben Sie für Strategien entwickelt, um in diesem Medien- und Kulturbetrieb zu existieren?
Das Problem ist, dass ich ein Gruppenmensch bin und ungern allein arbeite, blöderweise in letzter Zeit immer eher gezwungen war, allein zu agieren. Zum Glück gibt's diese Partnerschaft mit André Meier, Fernsehen haben wir zusammen gemacht, die Videoschnipsel machen wir zusammen. Ansonsten war schon immer mein Ansatz, und das war auch das beste Transparent, das ich auf dieser unsäglichen 4. November-Demo gelesen habe: Böse bleiben, Banden bilden. Immer noch versuchen, mit Leuten was zusammen zu machen. Mit Helmut Höge oder auch mit der Sklaven-Papenfuß-Fraktion zum Beispiel.
Sie haben die Demo am 4. November erwähnt. Was fanden Sie daran so unsäglich?
Da war schon absehbar, was die ganze Wende kennzeichnete. Wenn so viel über die DDR geredet wird - was war eigentlich das Schlimmste an der DDR? Für mich war das diese extreme Erziehung zu so einem grenzenlosen Opportunismus. Das mag es woanders genauso geben, aber ich habs nun mal in der DDR erlebt. Immer alles mitmachen und bestenfalls in der Pause darüber mosern. Nicht die Politik zu kritisieren, sondern dann so zu sagen: Na, wäre doch schön, wenn mal ein bisschen mehr in der Zeitung stehen würde, wenn man uns informieren würde. Aber darum gings doch gar nicht! Jeder konnte immer alles wissen. Für mich war es ein Schock, den 7. Oktober auf der Schönhauser Allee zu erleben, eher zufällig. Da hab ich zum erstenmal Volkspolizei mit Wasserwerfern, Schildern und Knüppeln gesehen. Wenn mich da nicht ein Stasi-Typ in einen Hausflur gezogen hätte, hätte ich selbst was abbekommen. Das war ein schwerer Schock. Da haben die anderen noch Fackelzug gemacht. Und dann gehen wir alle schön am 4. November zur Demo und fordern ein bisschen Pressefreiheit, bisschen Meinungsfreiheit, keine Gewalt, und dann war das ne Demo wie klassischer 7. Oktober.
Im Westen wird gerne über die Demokratiefähigkeit der Ex-DDR-Bürger philosophiert. Was ist eigentlich aus diesem öffentlichen, politischen Engagement geworden, das die Wende ja schließlich mit herbeigeführt hat?
Das Problem ist, glaube ich, mal abgesehen von der allgemeinen Politikmüdigkeit, eher die Frage, ob es Politik überhaupt noch gibt. In beiden deutschen Staaten ist man groß geworden mit einem Politikverständnis, das in der Konfrontation von Ost und West wurzelte: Die Amis/die Russen, Ostdeutschland/ Westdeutschland. Über den jeweiligen Gegner ließ sich Politik immer definieren. Das existiert nicht mehr. Seit 1990 ist aus Politik eigentlich mehr eine Art Verwaltung geworden: Sachfragen, Rentenproblem, Bevölkerungsentwicklung. Was daran jeweils die politischen Aspekte sind, spielt kaum eine Rolle und wird übertüncht von immer stärkeren medialen Inszenierungen. Siehe: die Schröder-Zigarre.
Sie beschreiben diese Personalisierung in der Politik, aber im Grunde genommen lebt Ihre Arbeit doch auch davon. Sie stehen für etwas Bestimmtes. Ist das nicht ein genereller Trend?
Es ist die Frage, wie man damit umgeht. In gewisser Weise kotzt mich das an. Oder auch dieser Kult-Begriff. Deine Sendung ist Kult, oder du bist Kult - völliger Schwachsinn. Du wirst selbst zu einer Marke wie Nike, angesagt oder dann wieder nicht angesagt. Das kann man nur mit Langfristigkeit unterlaufen.
Wie gehen Sie mit diesem kurzfristigen Erwartungsdruck um, der sich mit Ihrer Person verbindet?
Der ist schon schwierig, weil du immer in diesem Eiertanz bist zu machen, was du machen willst, aber um das tun zu können, bist du auch auf diese öffentliche Anerkennung angewiesen.
Liegt das vielleicht auch daran, dass wir in der DDR dieses öffentliche Agieren nicht so kannten und dadurch vielleicht auch eine Chance hatten, weil wir in diese Sachen so unverbraucht reinkamen und uns langsamer abnutzen?
Als Ostler verfügt man über einen gewissen Luxus, den man nur im Osten ausbilden konnte, weil man eigentlich recht souverän entscheiden konnte, was macht man oder was macht man nicht. Geht man in die Kampfgruppe oder geht man nicht? Es gab ein paar Fragen, da war es richtig hart, aber diese Verweigerungshaltung, die war relativ einfach.
Kommen Ihnen diese letzten zehn Jahre eigentlich eher lang vor oder kurz?
Eigentlich sind die schnell vorbeigegangen, weil diese Zeit so ereignisintensiv war. Das wird jetzt immer langsamer, hab ich den Eindruck. Der Anfang war furios. Da ist ja von Woche zu Woche alles zusammengebrochen. Man hat plötzlich Vokabeln gebraucht, die man ne Woche vorher nicht in den Mund genommen hätte. Man konnte Sachen denken, die vorher undenkbar waren. Das beruhigt sich jetzt. Das ist auch ein bisschen das Schreckliche, jetzt an die Zukunft zu denken. Jetzt hängt man wieder in so einem Bresch new-Zeitalter, alles geht immer so weiter, wie es immer schon gegangen ist. Das ist schon ein bisschen bitter.
"Das Chaos ist aufgebraucht, es war die beste Zeit". Aber vielleicht wird es jetzt ja allmählich auch möglich, sich wieder mit anderen Dingen zu beschäftigen als mit deutschen Fragen.
Dieses auf sich selber Gucken, das hängt schon mit dieser seltsamen Luxuswelt zusammen, in der wir hier leben. Weil der Blick woanders hin immer mögliche Katastrophen ins Bewusstsein rücken würde.
Was ist denn der Ansatz für Ihr China-Projekt?
Ich bin zu allem, was ich mache, immer gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Da kam immer einer an und sagte: Mach mal. Dadurch habe ich zwar nie das Gefühl, dass ich das, was ich mache, könnte. Aber: Versuch macht klug! Erstmal ausprobieren. So bin ich zum Radio, zum Fernsehen und jetzt zu der Chance gekommen, an der Volksbühne im großen Haus mal was Richtiges zu machen. Da wär ich ja blöde, wenn ich das nicht mache. Auf den Gegenstand bin ich eigentlich vor ein paar Jahren gekommen, als ich im Antiquariat so ein seltsames Büchlein aus dem Rowohlt-Verlag gefunden habe: Das Mädchen aus der Volkskommune mit chinesischen Comics. Das blätter ich so durch - das war aus dem Chinesischen ins Italienische und von da ins Deutsche übersetzt - und denke, den Übersetzer kennst Du doch: Arno Widmann. Den kannte ich von der taz. Dem hätte ich nicht die leiseste Spur von Maoismus zugetraut. Den schätze ich sehr, aber der ist ja eher so eine bürgerliche Existenz, eher so ein Genießer. Dabei fiel mir auf, dass diese ganze Maoismus-, Sponti- und K-Gruppenzeit ja schon eine wichtige Sozialisationsphase für die Leute war, die heute um die 40, 50 sind und sogar an der Regierung sind. Das fing an, mich zu interessieren und das würde ich gerne in so einer Inszenierung hoch holen.
Das kriegt auch noch eine ganz andere Aktualität, wenn man an diese Inthronisation des Erziehers denkt, wo sich dann jeder Altlinke sagen kann, ich war immer in der Umweltbewegung engagiert, jetzt will ich Umweltminister sein und das mal den Leuten beibringen. Dieses komische Lehrermodell, das sich ins Heute transportieren lässt. Diese Weltverbesserungsgeschichten. Und das Uto pische, was dadrin liegt, was ja verlorengegangen ist. Das mag einem vielleicht heute wie ein Märchen vorkommen, aber vielleicht gibt es ja auch ein Interesse an Märchen. Ob das was wird, weiß ich auch nicht. Aber wenn man auf dem Seil tanzen will, dann muss man auch in Rechnung stellen, dass man runter fällt.
China ist auch eine große Metapher.
Da ist auch ne gewisse Portion Schadenfreude dabei, das aus so einem Rowohltbänd chen zu nehmen. Uns fragen sie immer, warst Du denn für Biermann oder gegen Biermann, und waren selbst glühende Maoisten mit nem roten Büchlein in der Hand. Für die 30 Millionen die bei der Kulturrevolution über den Jordan gegangen sind, fühlt sich keiner verantwortlich. Du musst immer erklären, wie du die 400 Mauertoten mit deinem Gewissen vereinbaren kannst, aber dass da einer ein Problem mit 30 Millionen Kulturrevolutions-Opfern hätte, merkt man denen irgendwie nicht an, wenn sie über die Zivilgesellschaft faseln.
Dieser ständige Rechtfertigungsdruck, der hat ja durchaus etwas Chinesisches.
Kritik und Selbstkritik.
Das Gespräch führten Kathrin Tiedemann und Detlev Lücke
Jürgen Kuttner Stück Renegaten? Lai Feng! kommt am 12. Januar 2000 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz zur Uraufführung.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.