Ende Juli dieses Jahres ist Hilde Domin, "die erste deutsche Dichterin unserer Gegenwart" (Harald Hartung), 90 Jahre alt geworden. Als unwissender Student habe ich sie 1961 zum ersten Mal in einem kunsthistorischen Seminar über den Manierismus wahrgenommen, das ihr Mann Erwin Walter Palm an der Universität Heidelberg leitete. Im Halbdunkel des Übungsraums hörte ich ihre helle, fordernde Stimme, mit der sie zum wissenschaftlichen Diskurs beitrug. Zwei Jahre vorher war ihr erster Gedichtband Nur eine Rose als Stütze erschienen und hatte sie rasch bekannt gemacht.
Von dem, was sie (und Palm) im damals noch steifen Hochschulmilieu so ungewöhnlich, fast sensationell erscheinen ließ und die besondere Art ihres Wissens ausmachte - Emigration und Neubeginn, eine z
d Neubeginn, eine zerrissene und doch unendlich bereicherte Biographie - begriff ich als junger Mensch nicht viel. 1909 in Köln geboren, studierte Hilde Domin in Heidelberg Politische Wissenschaften; sie wandte sich bereits 1932 nach Italien und floh schließlich über England nach Santo Domingo. Dort schrieb sie 1951 ihr erstes Gedicht. Sie verstand diese verspätete Lösung der Zung als "zweite Geburt", ein nochmaliges und erst wahrhaftes Zur-Welt-Kommen. Im Winter 1960 kehrte sie "nach einem Umweg über den halben Globus" nach Heidelberg zurück.Seither gilt Hilde Domin als "Dichterin der Rückkehr". Ihre kaum verschlüsselten Verse senden Impulse und Ermutigung und der Hoffnung aus, einen trotz allem erlittenen Unglück unverwüstlichen Optimismus, der ihr ein treues Publikum zuführte, das solcher Versöhnungsgesten bedurfte. Stets hat sie an den Nutzen, die Wirksamkeit von Poesie geglaubt, in der Verlassenheit des Exils wie auch um 1968, als unsereiner die Literatur für überflüssig oder gar für tot erklärte. Die deutsche Muttersprache, die ihr auch in der Fremde ein Zuhause bot, handhabt sie ebenso verhalten wie pointiert. Ihre meist kurzen Gedichte wirken aufwandlos, die Aussagen eindringlich, ohne Umschweife. Es sind, so Ulla Hahn, "klare Bilder von einer strengen Grazie, ernst und zäh."Das vorgestellte Gedicht erschien zum ersten Mal im Almanach des Münsteraner Lyrikertreffens von 1979 unter dem Titel Flucht; danach mit dem umständlicheren Namen Ausbruch von hier in den Gesammelten Gedichten (1987) und zuletzt in Der Baum blüht trotzdem (1999). Vermutlich entstand es als Reaktion auf den Feitod John Amérys im Oktober 1978. Paul Celan und Peter Szondi, denen der Text ebenso gewidmet ist, gingen 1970 beziehungsweise 1971 aus dem Leben.Grob vereinfacht ließe sich das Gedicht so lesen: Während Celan, Szondi und Améry mit dem Grauen der Nazizeit, das sie als Juden hautnah erfuhren, nicht fertig wurden und sich in radikaler Selbstverneinung töteten, tauche "ich" einfach ab und werde "tätig", indem ich mir ein neues Paradies aus "Buchstaben" erschaffe - ein Beispiel für Hilde Domins unbändigen Lebens- und Arbeitswillen. Allerdings könnte das "Seil", mit dessen Hilfe das lyrische Ich "nach Häftlingsart" der feindlichen Gegenwart entflieht, auch zum Erhängen dienen, oder es könnte vorzeitig reißen, was ebenfalls tödliche Folgen hätte.Tatsächlich sind Hilde Domin - überblickt man ihr Werk - Selbstmordgedanken keineswegs fremd. Ach, ich möchte hinausgehen / und mich auf die Wiese legen / mit offenen Adern, liest man in einem frühen verzweifelten (Ehe-)Gedicht. Doch gerade dieser "Angst", dem individuellen wie dem kollektiven Unheil, setzt die Poetin "das Dennoch jedes Buchstabens" entgegen, "den kleinen Ton meiner Stimme". Schreiben, das Schwingen von Zeile zu Zeile, kann Selbsterhaltung sein, Befreiung und heilsamer Widerstand gegen den Tod, dem Leben und den Menschen zugewandt. Deshalb vielleicht hat die "starke Ruferin" den ursprünglichen Titel "Flucht" schon bald durch das aktiver klingende Wort "Ausbruch" ersetzt, das einen sogar an "Aufbruch" denken läßt.Hilde Domin ist 1909 in Köln geboren; sie lebt in Heidelberg. Das vorgestellte Gedicht steht in dem BandDer Baum blüht trotzdem, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999, 90 S., 29,80 DMHilde Domin: "Ausbruch von hier - Für Paul Celan, Peter Szondi, Jean Améry, die nicht weiterleben wollten"Das Seil nach Häftlingsart aus Bettüchern geknüpft die Bettücher auf denen ich geweint habe ich winde es um mich Taucherseil um meinen Leib ich springe ab ich tauche weg vom Tag hindruch tauche ich auf auf der andern Seite der Erde Dort will ich freier atmen dort will ich ein Alphabet erfinden von tätigen Buchstaben