Das Design bestimmt das Bewusstsein

Die Doytçe Sozialdemokratische Politik ist in diesen Tagen ein Schaumbad, hält ein paar Minuten, dann wird es kalt. Die SPD ist reif für eine Übernahme
Ausgabe 12/2016
Hatice Akyün weinte vor Freude über den Wahlsieg Schröders. Die Freude hielt nicht lange
Hatice Akyün weinte vor Freude über den Wahlsieg Schröders. Die Freude hielt nicht lange

Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images

Als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, war ich 13 Jahre alt. Als er es nicht mehr war, 29. Irgendwann zwischen 1982 und 1998 ist meine Generation politisiert worden. Der eine Teil wurde wegen der Kohl-Politik sozialer, der andere egoistischer. Meine Generation war in zwei Lager geteilt. Links die Schmarotzer, die es sich in der sozialen Hängematte bequem machten. Rechts die Leistungsbeschwörer, die an den selbstregulierenden Markt glaubten. Diese beiden Lager waren eigentlich ganz gut. So war es möglich, sich politisch sicher zu positionieren.

Als Kohl 1998 abgewählt wurde, stand ich in der SPD-Parteizentrale meiner Heimatstadt Duisburg und habe geweint. Nicht weil ich Gerhard Schröder so toll fand. Nicht weil mich seine Politik der „Neuen Mitte“ so überzeugte. Nein, weil ich tatsächlich daran geglaubt habe, dass meine Überzeugung von der Solidargemeinschaft wahr werden würde. Das Ergebnis meiner Träumerei ist bekannt. Schröder wurde zum Genossen der Bosse. Über Nacht konnte einer vom Arbeitnehmer zum Sozialhilfeempfänger werden.

Arme stiegen weiter ab, die Mittelschicht wurde ärmer, nur die Wirtschaft hatte es gut. Arbeiter verloren Rechte, für die die SPD ein Jahrhundert gekämpft hatte. Mein Bild von der Sozialdemokratie wurde arg verwässert. Heute ist es nicht nur verwässert, es hat sich in Populismus aufgelöst. Sozialdemokratische Politik ist in diesen Tagen ein Schaumbad, hält ein paar Minuten, dann wird es kalt. Wir erleben den Offenbarungseid einer entpolitisierten Generation, die kurzfristig und aus dem Bauch heraus denkt, in der Hoffnung, dass es sie persönlich nicht trifft.

Vor einigen Tagen saß ich mit Freunden zusammen. Im Großen und Ganzen alle Sozialdemokraten. Wir kamen darauf zu sprechen, ob man die SPD überhaupt noch wählen könne mit Gabriel als Genossen der Scheiche. Ich sagte, dass ich gezwungen werde, CDU zu wählen. Wie konnte mir das bloß passieren? Mir, die ich in der Herzkammer der Sozialdemokratie aufgewachsen bin? Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich, gerade 18 Jahre alt, mit Freunden zur „Brücke der Solidarität“ nach Rheinhausen lief, um die Stahlarbeiter, die für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstrierten, mit Kaffee und Schnittchen zu versorgen.

Das machte man so bei uns. Dazu war man verpflichtet. Das war unsere Tradition, denn natürlich hieß auch rechts Tradition. Aber eine der sozialen Ungleichheiten und eine der Ordnung, in die man sich einzugliedern hatte. Links bedeutete Emanzipation, Chancengleichheit und Umverteilung. Heute gibt es Mandatsträger, für die Diäten ein Taschengeld sind und die das große Geld bei Interessenvertretern bekommen. Gewerkschaftler, die nicht mehr aufschreien, weil sie nicht schuld sein wollen. Jede politische Gruppierung trommelt nur für die eigenen Bedürfnisse und die eigene Ungerechtigkeit, übersieht aber die Ungerechtigkeit, die andere erleiden müssen. Das Design bestimmt das Bewusstsein.

Seit einer Weile geht es mit der SPD bergab. Und seit einer Weile sagt manchmal einer im Freundeskreis, der gegen den Strom schwimmen will: „Jetzt sollte man eintreten.“ Man tut es dann natürlich nicht. Warum eigentlich nicht? Die SPD ist reif für eine Übernahme. Eintreten, Anträge schreiben, Beschlüsse herbeiführen, Wahlen gewinnen, sozial regieren. Nichts wünsche ich mir sehnlicher zurück, als wieder zu einem politischen Lager zu gehören und mich klar positionieren zu können. Nur die Partei fehlt noch.

Hatice Akyün ist deutsche Schriftstellerin mit türkischen Wurzeln. Als Die Doytçe schreibt sie für den Freitag regelmäßig über ihr Leben mit zwei Kulturen

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