FREITAG: Die Weizsäckerkommission hat ein Jahr beraten. Das Ergebnis war noch nicht offiziell, da verkündete Herr Scharping sein eigenes Konzept. Lothar de Maizière nannte diesen Umgang "respektlos". Hat er Recht?
GERNOT ERLER: Die Regierung steht unter Zeitzwang. Wir wollen die Strukturreform der Bundeswehr noch haushaltswirksam einbringen in den Bundeshaushalt 2001. Scharpings schnelle Reaktion ist keine Missachtung der Arbeit der Weizsäckerkommission, sondern hat nur mit diesem Zeitrahmen zu tun.
Warum die Eile bei einem so wichtigen Thema, ohne dass es eine breite gesellschaftliche Debatte gegeben hätte?
Diese Debatte über die Zukunft der Bundeswehr hat nicht erst seit der Vorlage des Kommissionsberichts begonnen, die Themen Wehrpflicht und neue Aufgaben der Bundeswehr sind uns ja uns seit langer Zeit vertraut. Die Kommission hat jetzt einen hervorragenden analytischen Bericht über den Gesamtkontext der Bedrohungssituation, der Sicherheitslage, der zukünftigen Sicherheitspolitik vorgelegt, der die ganzen vorherigen Diskussionselemente bündelt. Der Bericht beendet die Phase der Beliebigkeit und schafft eine Grundlage, auf der es jetzt möglich ist, relativ schnell Entscheidungen zu treffen.
Glauben Sie wirklich, dass es einen Konsens in der Bevölkerung gibt, wenn die Kabinettsbeschlüsse und die Parlamentsentscheidungen da sind? Weiß die Bevölkerung, welche Konsequenzen auf sie zukommen?
Es wird nicht so sein, dass wir bis Ende Juni schon eine komplette Strukturentscheidung haben für alle Einzelheiten der künftigen Bundeswehr. Es geht um Eckpunkte, die jetzt gesetzt werden müssen. Das betrifft den Umfang der Bundeswehr, den Anteil von Wehrpflichtigen und den Haushalt für 2001.
Nehmen wir den Eckpunkt Krisenreaktionskräfte. Unter welchen Bedingungen sollte die Bundeswehr Ihrer Meinung nach "out of area" gehen? Mit welchem Mandat?
Da macht die Weizsäckerkommission einen Vorschlag, den ich voll teile. Es kann sich hier nur um die Erfüllung von Aufträgen handeln, die entweder von den Vereinten Nationen oder der OSZE kommen. Das ist die einzige, nach dem Völkerrecht gültige und legitime Mission, die es für die Bundeswehr außer der Landes- beziehungsweise Bündnisverteidigung geben kann.
Also keine Wiederholung vom Kosovo?
Es ist eine ganz deutliche Auffassung auch der SPD-Bundestagsfraktion, dass die Entscheidung zur Beteiligung am Kosovo-Krieg aus einer alternativlosen politischen Situation heraus entstanden ist und dass dies die absolute Ausnahme bleiben muss.
Heißt Krisenreaktion militärischer Kampfeinsatz?
Krisenreaktion heißt Beteiligung an multilateralen Operationen und hat ein Spektrum von verschiedenen Interventionsmöglichkeiten. Das sind nicht immer zwingend Kampfeinsätze. Die Weizsäckerkommission betont, wie wichtig die frühzeitige Präsenz von militärischen Kräften in einer Krisensituation sein kann, um den akuten Ausbruch von Krisen zu verhindern. Aber in letzter Konsequenz muss Krisenreaktion auch Kampfeinsätze einschließen, wie das schon in den neunziger Jahren an verschiedenen Stellen der Fall war, zum Beispiel in Bosnien, aber auch im Kosovo.
Sollte ein Land, das seine Soldaten in alle Welt schicken will, vorher nicht wenigstens gesagt haben, welches die eigenen Interessen dabei sind?
Das ist richtig, aber wir haben ja parallel den Prozess der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Das wird also immer mehr eine Frage europäischer Interessen sein. Es sind schon innerhalb der EU gemeinsame Strategien für wichtige, neuralgische europäische und außereuropäische Regionen definiert worden. Und es ist ein großes Verdienst der Weizsäckerkommission, diese Vorgänge aufgenommen und zu Ende gedacht zu haben.
Und wie halten Sie es mit der Wehrpflicht?
Ich bin der Meinung, dass man die Argumente der Weizsäckerkommission für eine friedenspolitische Legitimation der Wehrpflicht ernst nehmen, auf jeden Fall aber sehr genau prüfen muss. Ich finde den Gedanken sehr wichtig, dass eine zum Teil auf Wehrpflicht beruhende Armee im Falle einer nicht gänzlich auszuschließenden Herausforderung für die Landes- oder Bündnisverteidigung flexibler ist, weil man eben keine dramatischen und krisenverschärfenden Mobilisierungsmaßnahmen treffen muss.
Dass Zivildienstleistende in vielen Bereichen heute unersetzlich sind, spielt keine Rolle?
Man kann den Aspekt Zivildienst nicht außer acht lassen oder vernachlässigen. Das wird auch nicht geschehen. Aber es geht auch nicht an, dass die künftige Struktur der Bundeswehr und die Frage der Wehrdienstplätze von diesem nachgeordneten Bereich des Zivildienstes bestimmt wird.
Mit der Idee der Grünen, Wehr- und Zivildienst abzuschaffen und dafür 90.000 reguläre Arbeitsplätze im sozialen Bereich zu etablieren, können Sie nichts anfangen?
Es ist gut zu wissen, dass die sozialen Einrichtungen der Bundesrepublik sich auf eine Situation ohne die große Zahl der Zivildienstleistenden vorbereiten und dass sie konkrete Vorstellungen entwickeln, wie eine Unabhängigkeit vom Zivildienst aussehen könnte. Aber die friedenspolitischen Argumente der Weizsäckerkommission für eine Beibehaltung der Wehrpflicht haben doch Gewicht, und ich sehe, dass es im Bundestag, auch in meiner Fraktion, eine sehr deutliche Mehrheit für die Beibehaltung der Wehrpflicht gibt. Das wissen auch die Grünen.
Das Gespräch führte Torsten Wöhlert
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