Das Ende der Plattenkritik, wie wir sie kennen

Popgeschichte Die Musikzeitschrift "Spex" schafft die gute alte Plattenkritik ab. Was haben wir sie geliebt! Aber gibt es nicht doch Alternativen?

Mit der aktuellen Ausgabe der Spex hat sich das Musikmagazin von der bisherigen Form der Plattenkritik verabschiedet. Man könnte den Schritt für eine gelungene PR-Aktion halten: Der Tagesspiegel reichte einen Kommentar an die Zeit weiter, die FAZholte sich zur Klärung des Traditionsbruchs den ehemaligen Spex-Autor Diedrich Diederichsen und ließ ihn das Wort „Distinktionsbewaffnung“ erfinden, und auch der Autor dieser Zeilen sieht einen Teil seiner Sozialisierung schwinden.

Und dann auch wieder nicht. Aber der Reihe nach. Gegen Ende der siebziger Jahre waren Publikationen wie der New Musical Express (NME) oder Sounds für mich Pflichtlektüren aus England, die ihren Lesern eine Welle neuer Musik um die Ohren hauten. Jede Zeile bewies die Hingabe der Autoren zur Popkultur, und so taten britische Musikjournalisten wie Garry Bushell mehr für meine musikalische und fremdsprachliche Entwicklung als meine Musik- und Englischlehrer. Deutsche Musikjournalisten hingegen waren frustrierte alte Säcke, die ihre Schreibmaschine vom neuen Dylan-Release zur nächsten Stones-Anniversary-Box schleppten. Stellte ich mir vor. Und lag damit vermutlich gar nicht so falsch.

Der erste Blick beim Aufschlagen des neuesten NME (Sprich es laut aus, Mann: EN-EM-Y!) galt den Plattenrezensionen, welche die Eintrittskarte zum Tempel der Coolness waren. Ohne diese Rezensionen hätten die TV Personalities ohne mich über „Part Time Punks“ gelästert und The Fall wären in ihren „Container Drivers“ unbemerkt an mir vorbei gerauscht. Zur gleichen Zeit begannen junge Autoren in Deutschland, Musikrezensionen im frisch gegründeten Magazin Spex zur Kunstform zu erheben. Als fotokopiertes Fanzine gestartet, nahm die Spex – damaliger Untertitel: „Musik zur Zeit“ – dem deutschen Magazin Sounds den Ball ab, und als Sounds 1983 mit dem Musik Express zwangsfusioniert wurde, liefen nicht nur Leser, sondern auch Autoren zur Spex über.

Viele Meinungsquellen

Deren Kritiken nahm ich zwiespältig auf. Zwar waren auch britische Musikrezensionen nicht frei von Eitelkeiten und Ausuferungen, doch sie behielten eine emotionale Nähe zur Musik: Aus ihnen sprach Liebe und Leidenschaft. Die Plattenkritiken in der Spex hingegen empfand ich als, Sorry, Akademikergewichse, und Spex-Autoren waren frustrierte Germanistik-Studenten, die nicht tanzen konnten. Stellte ich mir vor. Und lag damit vermutlich gar nicht so falsch.

Sei’s drum, heute ist sowieso alles anders. Das Internet ermöglicht es, sich binnen Sekunden einen eigenen Eindruck vom neuen Werk eines Künstlers zu verschaffen, und wir haben Zugriff auf unendlich viele Meinungsquellen. Musik-Blogs sorgen für Übersicht, und so dürfte die Spex-Entscheidung bei der digitalen Gemeinde allenfalls ein gelangweiltes wayne? auslösen: Wen interessiert’s? – und nur wir neuen alten Säcke werden etwas sentimental.

Die Spex ohne Rezensionen, das könnte als konsequente Reaktion auf den Medienwandel respektiert werden. Wäre da nicht die Tatsache, dass die Spex ihre Kritiken keineswegs ersatzlos streicht und somit an den Long Tail abtritt oder sie als Diskussionseinladung im Netz weiterleben lässt. Nein, die bisherigen Artikel im Heft werden durch die Transkribierung einer Redaktionsdebatte über eine Veröffentlichung ersetzt. Statt die Entwicklung der neuen Formen und Spielarten der Popkultur zu begleiten, zu reflektieren und zu bewerten, galoppiert man ab jetzt vom Einerseits ins Andererseits und kommt damit verkopfter daher als zuvor. Statt endlich tanzen zu lernen.

Johnny Häusler betreibt das preisgekürte Blog

spreeblick

. Er war Frontmann der Band Plan B und wurde mindestens einmal abfällig in der Spex erwähnt.

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