Als der kanadische Philosoph James R. Brown in den 1980er Jahren anfing zu behaupten, mittels Gedankenexperimenten könne man direkt in den platonischen Himmel der abstrakten Gegenstände schauen, hat das nur wenige überzeugt. Die These ist radikal, denn sie behauptet nichts anderes, als dass es möglich sei, durch reines Sehen im Geiste neues empirisches Wissen zu erlangen. Und doch hat Brown hiermit nicht völlig unrecht, denn ganz offensichtlich schenken selbst Naturwissenschaftlicher dem Gedankenexperiment bis zu einem gewissen Grad Vertrauen.
Aber woher kommt der Erkenntnisgewinn bei einem Gedankenexperiment? Nahe liegt die Antwort von John Norton, Wissenschaftsphilosoph an der Universität Pittsburgh. Für ihn sind Gedankenexperimente einfach verkappte Arg
kappte Argumente; die Prämissen sind schlecht artikuliert und das Argument durch viele Nebensächlichkeiten verdeckt. Die Prämissen enthalten etabliertes Wissen, das einfach nur neu geordnet wird und dem Gedankenexperiment so den Anschein von Wissenserwerb verleiht.Nortons Skepsis ignoriert aber eine überraschende Beobachtung: Formuliert man das Argument eines Gedankenexperiments so ordentlich aus, wie es Norton vorschwebt, ist es oft nicht mehr so leicht verständlich – manchmal sogar überhaupt nicht mehr überzeugend. Irgendetwas steckt im Gedankenexperiment, das über die reine Logik hinausreicht.Gleichsam in einem Kompromiss zwischen Brown und Norton sehe ich als zusätzliche Erkenntnisquelle des Gedankenexperiments die Intuition. Die Intuition verhilft dem Gedankenexperimentator zu Prämissen, die ansonsten nur schwer zugänglich oder ganz verborgen bleiben würden. Rekonstruiert man dann das Gedankenexperiment als ein Argument, so lassen sich die Prämissen explizit machen und einer kritischen Sichtung unterziehen.Gute Gedankenexperimente unterscheiden sich von schlechten zum einen dadurch, dass es gute Argumente sind – die Prämissen stützen die Konklusion in logisch zulässiger Weise. Zum anderen aber auch dadurch, dass gute Gedankenexperimente Szenarien zu Grunde legen, die unsere Intuition nicht in die Irre führen.Dank der Psychologie wissen wir, dass unsere Intuition sehr anfällig für Täuschungen ist. Dies besonders dann, wenn sie sich an Szenarien erproben muss, an denen sie nicht geschult ist. Den meisten ist es zum Beispiel intuitiv äußerst plausibel, dass es eine Menge aller Mengen geben muss. Es gibt doch auch eine Menge aller Elefanten, Zeitungen, usw. Aber für geschulte Logiker erscheint dies intuitiv unplausibel: Eine Menge aller Mengen enthält sich nicht selbst, und wenn doch, dann ist es nicht die Menge aller Mengen: Wir landen bei einer klassischen Paradoxie.Für die Behauptung, dass wir die Intuition zur Erklärung von erfolgreichen Gedankenexperimenten brauchen, spricht auch folgendes: So können wir eine Klasse von Gedankenexperimenten verstehen, die bislang schlicht nicht beachtet wurde – nämlich die der Offenbarungstheologie. Die Offenbarungstheologie unterscheidet sich von der bloßen philosophischen Theologie durch eine Rückbindung an das, was als Offenbarung gilt. Im christlichen Kontext schärft sich die Intuition des Offenbarungstheologen etwa an der Bibel und ihrer normativen Auslegung.Der Blick auf die offenbarungstheologischen Gedankenexperimente verhilft zu einer neuen Sicht auf das Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft. Mit jedem Beweis, dass die Offenbarungstheologie formal den Naturwissenschaften gleicht, lässt sich die Religion natürlich nicht mehr so leicht als Unsinn abtun. Genau das hat jüngst der renommierte Physiker und anglikanische Priester John Polkinghorne demonstriert. Er fand zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen Quantenphysik und christlicher Offenbarungstheologie: Beide sind für ihn bloß unterschiedliche Weisen des Wissenserwerbs, aber beide gehen von Daten aus und führen unter Inanspruchnahme von Methoden zur Entwicklung von Theorien und so schließlich zur Erklärung von verwirrenden Phänomenen – beispielsweise hinsichtlich der Inkarnation Gottes oder des Welle-Teilchen Dualismus.Für Polkinghorne arbeiten hier Theologie und Naturwissenschaft Hand in Hand an einer Universalformel oder auch: Metaphysik für die gesamte Wirklichkeit. Aber gleich wie man zum Projekt einer theologisch-naturwissenschaftlichen Universalformel steht, Gedankenexperimente werden dafür unverzichtbar sein – und in der Offenbarungstheologie sind sie auch wahrlich das Fenster zum Himmel.Über Gedankenexperimente findet an der Universität Oldenburg eine wöchentliche Ringvorlesung statt. Am Donnerstag, 2. Juli, wird dort Yiftach Fehige einen Vortrag halten mit dem Titel: "Gedankenexperimente denken. Die aktuelle Diskussion um das Gedankenexperiment"Die Universität von Toronto/Kanada organisierte im Mai eine wissenschaftliche Tagung über Gedankenexperimente. Die dort gehaltenen Vorträge kann man hier herunter laden.Am Donnerstag, 25. Juni, wird Ulrich Kühne im physikalischen Kolloquium der Universität Bremen einen Vortrag über naturwissenschaftliche Gedankenexperimente halten.