Das Fest der Deutschen

Die Kosmopolitin Weihnachten war für unsere Autorin, wenn all die anderen Kinder feierten. Fenster und Fernseher waren nur ein mäßiger Ersatz
Ausgabe 47/2017
Wo ist der Grinch, wenn man ihn mal braucht?
Wo ist der Grinch, wenn man ihn mal braucht?

Foto: Getty Images

Hier in München beginnt Weihnachten im August, wenn sie in den Supermärkten anfangen, Lebkuchen und Spekulatius zu verkaufen. Im Oktober werden die ersten Bäume aufgestellt, im November kommen Girlanden und Lichterketten.

Früher gab es kein Weihnachten für mich. Ich war gerade noch Kind, zwölf, dreizehn Jahre alt, in den Fenstern der anderen leuchtete es, um mich neidisch zu machen. Ich stellte mir den Geruch von frisch gebackenen Plätzchen und Lebkuchen vor, Geschenke und Lachen und einen Weihnachtsbaum, wie ich ihn aus Filmen kannte. Drei Tage, an denen meine Freunde für mich nicht zu sprechen waren, drei Tage, an denen ich mir wünschte, jemand anders zu sein. Ich stand am Fenster und sah den Lichterketten beim Blinken zu, wenn ich nicht vor dem Fernseher klebte, und meine Eltern verstanden meine Sehnsucht nicht. Sie hatten drei freie Tage, es waren keine Feiertage. Jetzt, wo ich selbst Kinder habe, denke ich, vielleicht waren sie auch nur hilflos.

Meine Eltern waren ein Jahr zuvor mit mir und meinem Bruder aus Russland nach Deutschland emigriert, sie waren Juden und entdeckten, da sie gerade dem religionsfreien, antisemitischen sowjetischen Glück entronnen waren, das Judentum neu. Weihnachten war etwas, das feierten eben die Deutschen. Die Tochter, also ich, klebte, wenn also nicht am Fenster, dann vor dem Fernseher und sah sich all die Weihnachtsfilme an, die traditionell in jedem Programm gezeigt werden. Fragt sich für wen: Diejenigen, die die schönen Geschenke unter den noch schöneren Weihnachtsbäumen haben, pflegen an den Feiertagen nicht fernzusehen, sondern die Liebe zu genießen, der das Fest, so sagt man, gebührt; und den anderen, einsame Herzen, Kinder aus nichtchristlichen Familien wie meiner, führen die Filme vor die Nase, was eh schmerzhaft riecht: Ich hab das nicht. Nicht die schönen Geschenke, nicht den schönen Baum, nicht diese Liebe, von der alle sprechen, also die besondere Weihnachtsliebe, nicht diesen Glauben an den Weihnachtsmann (und gleich das Gute im Menschen und Leben), mit dem jeder dieser Filme zu enden schien.

Später begann ich, an Weihnachten mit jüdischen Freunden Partys zu organisieren, wir nannten sie Anti-Weihnachts-Partys, um uns gegen aufschwappende Neidgefühle zu wappnen, aber wir backten Plätzchen, wir suchten nach einem Gefühl. Noch später versammelte ich an Weihnachten Freunde unter meinem Baum, lernte Stille Nacht, heilige Nacht und alle anderen Lieder, beschenkte alle, die ich kannte, auch wenn das Konto leer war.

Wir sitzen im Kino, meine Kinder und ich. Wir schauen uns einen Weihnachtsfilm an, in dem am Schluss alle an den Weihnachtsmann glauben und auch an die Liebe. Ich muss weinen, so etwa ab der Mitte. In der Mitte taucht dieses türkische Mädchen auf, das traurig ist, weil seine Eltern nicht Weihnachten feiern wollen. Und auch wenn das Mädchen, seine Eltern und die Wohnung unerträglich klischeehaft gezeichnet sind, so dass ich meinen Kindern am liebsten die Hand vor die Augen halten würde, damit sie sie nicht sehen, diese rassistischen Klischees von vor vierzig Jahren, setzt mein kritischer Verstand kurz mal aus, und da sind diese Tränen. „Wen mochtest du am liebsten im Film?“, fragt mein kleiner Sohn, als wir das Kino verlassen, und ich flüstere ihm den Namen ins Ohr. „Freust du dich auch auf Weihnachten?“, fragt er mich. „Ja“, antworte ich. Weihnachtsfreuden, die kindlichen.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin für den Freitag. Zuletzt erschien von ihr der Roman Mehr Schwarz als Lila

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