Das Fjord-Klischee

Lauschangriff Segen und Fluch: Vor 40 Jahren schufen Musiker wie Jan Garbarek, Arild Andersen, Jon Christensen und Terje Rydpal den "nordischen Ton"

Man kennt diese Vorstellung: oben der Himmel, unten der Fjord und dazwischen nur Ruhe. Das Ziehen der Wolken, das sanfte Gemurmel eines Bächleins, weit und breit kein Mensch. Man kennt das längst.

Für den Fall, dass die Welt Klang wäre, kennt man den passenden Sound dazu. Norwegische Musiker wie Jan Garbarek, Arild Andersen, Jon Christensen oder Terje Rypdal haben ihn vor 40 Jahren geschaffen, in einem Studio in Oslo, unterstützt von dem Münchner Produzenten Manfred Eicher, für dessen Label ECM dieser Sound zu einem Fluch und Segen wurde.

Segen, nicht nur weil die starken Musikerpersönlichkeiten, die Eicher seinerzeit in Norwegen entdeckte, und deren Nachfahren immer wieder Musik hervorgebracht haben, die nicht nur künstlerisch höchste Ansprüche erfüllte – sie stellten auch eine Verbindung zum zahlenden Publikum her. Fluch insofern, als der Sound, den Garbarek und Co. entwickelten, mit seinen gemessenen Melodiebögen aus lang gehaltenen Tönen, mit seinen transparenten Klangbildern und kathedralen Hallräumen schnell zu einem Klischee wurde, das die Wahrnehmung des Facettenreichtums dieser Musiker verdeckt.

Man kennt diesen Klang, den „nordischen Ton“ im Jazz, der die Improvisationsroutine mit ihren antrainierten Licks, dem aufgesetzten Swing und den würzenden Blue-Notes des Postbop im Museum lässt und stattdessen in den Sezierwerkstätten der jeweiligen Formationen musikalische Partikel aus der skandinavischen Folklore zum Ausgangsmaterial der Improvisation machte. Juchhe, jubelten Beobachter der Szene, mit dieser Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln konnten europäische Jazzmusiker sich endlich von der Vorherrschaft des amerikanischen Jazz befreien und ihren – unseren? – Klang im Jazz finden. Ach ja, wirklich?

Das Argument zieht nicht. Zum einen erscheint der amerikanische Jazz darin als gut gepflegtes, museales Gut, in dem es Varianten des Vertrauten, aber keine Weiterentwicklung mehr gibt. Im Westen nichts Neues. Dass das Unfug ist, hört, wer ein wenig abseits von dem sucht, was die Industrie als Jazz in die Regale stellt.

Zum anderen geht das Argument von einer Verwurzelung der skandinavischen Musiker in lokalen Musiktraditionen aus. Das mag für einige zutreffend sein, ist für andere jedoch zweifelhaft. In der Welt, in der diese Musiker aufgewachsen sind, waren sie eher von angloamerikanischer Popmusik umgeben als von den einsamen Stimmen aus dem Norden.

Was keinen davon abhalten muss, lokale Erfahrungen in seine Improvisationssprache zu integrieren, wie das Jazzmusiker überall tun. Das Ergebnis kann dann spannender norwegischer Gegenwartsjazz mit deutlichen Anleihen beim amerikanischen Loftjazz der siebziger Jahre sein, wie ihn der Bassist Per Zanussi mit Zanussi Five spielt. Oder der ruppige Heavy-Metal-FreeJazz des Scorch Trio, das feinsinnige Gespinst des Iro Haarla Quintet oder die komplexen Texturen, die das Trondheim Jazz Orchestra mit Joshua Redman als Gastsolist entwirft. Nicht zu vergessen die Altmeister wie Jan Garbarek, Jon Balke oder Supersilent für die Jüngeren.

Nordischer Ton? Elegisch über molliger Melancholie an raumfüllendem Hall? Nicht immer. Aber: gute Musik. Und nur darauf kommt es an. Stefan Hentz

Zanussi Five Ghost Dance. Moserobie Music Productions, Scorch Trio Melaza. Rune Gramofon, Iro Haarla Quintet Vespers. ECM/Universal, Trondheim Jazz Orchestra Triad and More. Mnj Records, Jan Garbarek Officium Novum. ECM/Universal, Jon Balke Siwan. ECM, Supersilent 10. Rune Gramofon

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