Das fünfte Gebot

Stille Post Kolumne

"Mors certa - hora incerta" - der Tod ist gewiss, die Stunde ungewiss, dieses lateinische Sprichwort ist eines der stärksten Argumente gegen die Perversion der Todesstrafe. Wir wissen nicht, wann und wie es uns erwischt, nur der zum Tode Verurteilte ist seiner Sterbensgewissheit ausgeliefert. Ein Mitglied der antifaschistischen Schulze-Boysen-Harnack-Widerstandsgruppe, deren führende Mitglieder größtenteils im Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurden, erzählte mir vor über 20 Jahren in einem Interview von seiner Todesangst, wenn jeweils Montagsfrüh die Henker des Zuchthauses Brandenburg-Görden die Delinquenten aus ihren Zellen holten. Gingen sie an der eigenen Tür vorbei, war eine Woche Leben gewonnen. Er überstand diese Qual wie Robert Havemann, weil er wie dieser an kriegswichtiger Forschung beteiligt war.

1956 las ich als 14-jähriger Schüler in der Berliner Zeitung die Namen zum Tode Verurteilter. Vorsorglich hatte das Blatt auch deren Wohnadressen mit angegeben. So erfuhr ich auch von Max Held, Adlershof, Straße 50. Er hatte im Nachbarhaus meines Schulfreundes Peter Wolter gewohnt. Ein Mensch, mitten aus meinem täglichen Umfeld. Ich hatte gedacht, Verbrecher kämen aus ihren eigenen Milieus und nicht aus den Wohngebieten "normaler" Menschen. Held, wegen Spionage zur Höchststrafe verurteilt, wurde zu lebenslänglich begnadigt, wie ich später erfuhr. Justiz im Kalten Krieg. Besonders makaber im Fall des Dr. Karl Laurenz, der wegen Spionage gegen den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl hingerichtet wurde und dessen Promotion einst die Wirkung von Todesurteilen zum Thema hatte. Die DDR hat die Todesstrafe in den siebziger Jahren abgeschafft, heute wird sie in Europa nur noch in Weißrussland verhängt. Die Vereinten Nationen haben sie geächtet. Was die ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates USA und China nicht daran hindert, sie exzessiv zu vollstrecken.

Wie sinnlos die Todesstrafe ist, konnte jeder in den Fernsehnachrichten sehen, als Saddam Hussein aufs Schafott geführt wurde. War es eigentlich die erste Hinrichtung, die auf dem Bildschirm gezeigt wurde? In den Vereinigten Staaten gibt es seit langem Bestrebungen, die letzten Minuten eines Todeskandidaten zu zeigen. Vielleicht ist die mediale Erregung etwas abgeklungen, seit bekannt geworden ist, dass Menschen, die durch angeblich humane Giftspritzen sterben, einen langen, schrecklichen Tod erleiden müssen. Auch Saddam Hussein war kein Argument für den letalen Medienhype. Er nahm das Kreuz, vor den Augen der Menschheit zu sterben, in erstaunlicher Ruhe auf sich. Präsident George W. Bush bezeichnete den Tod seines Erzfeindes als einen Meilenstein. Es könnte auch ein weiterer Mühlstein für ihn geworden sein.

Im Internet kursiert das Hinrichtungsvideo, bald wird ein Computerspiel daraus geworden sein. Ein Zehnjähriger aus den USA hat sich beim Versuch, die Erdrosselung Saddams nachzuspielen, selbst stranguliert. Der Halbbruder Husseins, ebenfalls zum Tode verurteilt, bekam am Tag des Sterbens seines Verwandten zum ersten Mal während der Haft einen Fernsehapparat in die Zelle gestellt. Mukith al-Farun, der Staatsanwalt des Prozesses gegen Saddam Hussein, der bei der Hinrichtung zugegen war und die Verwünschungen der schiitischen Wächter mitbekam, zog folgendes Fazit: "Es ist wie nach einer Jagd: Zuerst stellt man dem Tier nach, doch wenn man der Beute in die Augen blickt, empfindet man letztlich Mitleid. So ist es mir ergangen."

So wie ihm wird es vielen Zeugen dieses Moments ergangen seit. Manch einer wird in seinem Gedächtnis Bilder gegen den menschlichen Atavismus des Tötens abgerufen haben: Die Pistole des südvietnamesischen Polizeioffiziers an der Schläfe des Vietcongs, die sich küssenden Julius und Ethel Rosenberg, in Handschellen vor dem elektrischen Stuhl, die am Galgen hängende sowjetische Partisanin Soja Kosmodemjanskaja. - Das fünfte Gebot heißt: Du sollst nicht töten. Die Todesstrafe ist barbarisch, sie macht aus Menschen Barbaren. Eine leider wenig bindende Feststellung in der Geschichte der Menschheit.


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