Am Montag werden die Grünen – zum ersten Mal in ihrer Geschichte – einen Kanzlerkandidaten oder eine -kandidatin für die Bundestagswahl nominieren. Vieles spricht dafür, dass es Annalena Charlotte Alma Baerbock sein wird. Wenn man die gebürtige Niedersächsin in einem Satz charakterisieren müsste, dann hieße er wohl: „Die traut sich was!“ Schon als sie 2018 für den Bundesvorsitz der Grünen kandidierte, ohne dem bereits gesetzten Co-Vorsitzenden Robert Habeck davor auch nur ein Zeichen zu geben, war das ein mutiger Sprung für die damals weitgehend unbekannte 38-jährige Bundestagsabgeordnete. Doch nun geht es um den Griff nach der Kanzlerschaft – und das ist mit dem Grünen-Parteivorsitz in keiner Weise z
e zu vergleichen.Fest steht: Baerbock hat – ob der ungeschriebenen grünen Gesetze – als Frau das Recht des ersten Zugriffs. Und dennoch hätte sie es sich leicht machen und zugunsten von Habeck verzichten können. Das wäre noch vor einem Jahr wohl der normale Lauf der Dinge gewesen. Doch inzwischen hat Baerbock so viel an Boden gutgemacht, dass sie für viele die Favoritin ist. Damit steckt sie in einer echten Zwickmühle: Kandidiert sie nicht, enttäuscht sie damit ihre unzähligen AnhängerInnen. Kandidiert sie tatsächlich, geht sie damit voll ins Risiko. Denn der erklärte Anspruch der Grünen ist das Kanzleramt, und noch immer ist Habeck der weit bekanntere Protagonist. Noch am vergangenen Montag sprach der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul bei „Hart aber Fair“ nicht von Baerbock, sondern von Baerbaum.Aber Baerbock hat – als Ex-Trampolinspringerin auf Leistungssportniveau – eine enorm ehrgeizige und kompetitive Seite. Zudem besteht ihre große Qualität darin, im Gegensatz zu dem eher philosophisch interessierten „Überflieger“ Robert Habeck, sich in die Details der Sachthemen hineinzuwühlen. Schließlich hat sie längst bekannt, dass sie durchaus gern kandidieren würde. Ein Verzicht wäre, so Baerbock ehrlich, „ein kleiner Stich ins Herz “.Ob ihres Sachverstands und Machtwillens wird daher von manchen bereits eine Parallele zu Angela Merkel gezogen. Doch dieser Vergleich geht weit an der Realität vorbei. Denn als Merkel 2005, mit 51 Jahren, zum ersten Mal für das Kanzleramt kandidierte, war sie bereits sieben Jahre lange Bundesministerin gewesen und anschließend sieben Jahre lang Fraktionsvorsitzende.Baerbock hingegen fehlt – anders als Habeck – jegliche Erfahrung in einem Regierungsamt. Zur Erinnerung: Der einzige solitäre Spitzenkandidat, den die Grünen je hatten, war 2002 Joschka Fischer – und der war da bereits vier Jahre lang Außenminister und zuvor langjähriger Fraktionschef. Und dabei ging es bei seiner Kandidatur nur um die Rolle eines starken Juniorpartners an der Seite der SPD. Jetzt aber geht es um die Krone der Politik. Das Kanzleramt ist die „Todeszone“, so hatte es Fischer einst genannt. Und demzufolge handelt es sich bei der Kanzlerkandidatur um die Todeszone im Bundestagswahlkampf, in der jeder auf Herz und Nieren geprüft wird.Hieran zeigt sich: Es ist ein schmaler Grat zwischen Hoffnung und Hybris. Zumal für eine gerade einmal 40-Jährige, die bisher außer grüner Parteipolitik und knapp acht Jahren im Parlament beruflich nichts erlebt hat.Andererseits: Haben uns Dänemark, Finnland oder auch Neuseeland nicht vorgemacht, dass junge tatkräftige Frauen ein Land gerade auch in Krisenzeiten exzellent regieren können? Aber Deutschland ist nicht Dänemark, werden einige, durchaus zu Recht, einwenden.Annalena Baerbock wird sich all das sehr genau überlegt haben. Am Ende dürfte sie es dennoch machen. Darin bestärkt haben wird sie auch der brachiale Machtkampf der beiden Männer in der Union. Und da mit Olaf Scholz noch ein weiteres Exemplar der Gattung älterer weißer Mann den Anspruch auf das Kanzleramt erhebt, wäre Baerbock zweifellos das belebende Gegenmodell einer hochkompetenten jungen Frau mit dem Zukunftsthema Klimaschutz im Gepäck.Der eigentliche Grund für Baerbocks Kandidatur dürfte daher die anhaltende Dominanz der älteren weißen Männer sein. Übrigens durchaus auch im intellektuellen Raum. Zwei von ihnen haben – durchaus ungewollt – Baerbock jüngst eine Steilvorlage geliefert. „Annalena Baerbock als Kanzlerin? Ohne Frage sind ihr der Wahlsieg im Herbst und die Ausübung des Kanzleramts zuzutrauen“, stellen Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie in der Zeit generös fest, nur um dann von oben herab fortzufahren: „Aber darum geht es nicht allein. Jetzt geht es um mehr: Wie tritt eine erste grüne Persönlichkeit im Kanzleramt in der innen- und weltpolitischen Arena auf? (...) Politisch geht es um die Macht und deren Reflexion. Damit sind wir bei Robert Habeck. (...) Robert Habeck denkt nachhaltig und reflexiv. Er hat eine besondere Fähigkeit, mögliche Wirkungen und Nebenwirkungen von politischen Entscheidungen zu durchdenken. Deswegen halten wir ihn für den besseren Kanzlerkandidaten der Grünen.“Warum sollte sich da eine Annalena Baerbock – mit Fug und Recht – nicht sagen: „Nachhaltig und reflexiv? Das kann ich auch!“ Und damit – wieder einmal –, und zwar mit ihrer Kanzlerkandidatur beweisen: „Die traut sich was.“ Und dennoch wäre es, auch das lehrt das elende Schauspiel der Union, nicht weniger souverän, auf die eigene Kandidatur am Ende doch zu verzichten – ob aus Respekt vor der Aufgabe oder dem Wunsch nach einem möglichst großen Erfolg der Grünen.