Der Stadtplan von Peking ist respekteinflößend. Wie soll man sich nur zurechtfinden, die Straßennamen lernen? Wie nur lassen sich Schneisen schlagen durch das urbane Dickicht, um die enormen Entfernungen zu bewältigen und um Verbindungen herzustellen zwischen den unterschiedlichen Sphären? Die neu gebackenen, frisch uniformierten Angestellten des Kurierdienstes sind sprachlos, als ihnen der Chef ihr zukünftiges Arbeitsgebiet vorstellt. Sie alle stammen aus der Provinz, sind mit großen Erwartungen in die Hauptstadt gekommen. Aber nun müssen sie fürchten, an deren Dimensionen zu scheitern.
Doch die Kamera verweilt nur kurz auf den ratlosen Rekruten. Sie ist, ebenso wie Wang Xiaoshuais Protagonist Guei (Cui Lin), nicht leicht zu entmutigen. Schon i
Schon in der nächsten Einstellung lässt sie sich vom Glücksgefühl pedalenbetriebener Mobilität anstecken, von der einzigartig mühevollen Freizügigkeit des Fahrradfahrens. Guei entwickelt eine innige Beziehung zu seinem Rad, das er nach einigen Wochen abarbeiten will und durch eine Markierung als sein Eigentum beansprucht. Als es ihm gestohlen wird und er dadurch einen wichtigen Auftrag nicht erledigt, kündigt ihm sein Chef. Gueis Beharrlichkeit und Sturheit erweichen freilich das frühkapitalistische Herz des Unternehmers: falls er sein Rad findet, wird er ihn wieder einstellen. Unterdessen verfügt der Oberschüler Jian (Li Bin) stolz über das silbern glänzende Mountainbike: Nun kann er, ein Junge aus bescheidenen Verhältnissen, sich endlich seinen Schulkameraden ebenbürtig fühlen und überdies die Aufmerksamkeit der liebreizenden Qin (Zhou Xun) wecken. Einer, der sich so treuherzig verliebt, das spürt der Zuschauer schon bald, kann nicht ganz und gar schlecht sein. Und auch seine Liebe zu dem Fahrrad ist aufrichtig. Nachts steht Jian manchmal auf, einfach nur, um sich auf den Sattel zu setzen und Kunststücke einzuüben. Als ein Freund jedoch unverhofft Gueis gestohlenes Mountainbike wiedererkennt, beginnt ein erbitterter Kampf. "Das ist ja wie in Die Geschichte von Qui Ju" sagt sein Chef mit einer Mischung aus Spott und Anerkennung, als Guei ihm tatsächlich das Rad wieder vorführt. Dies ist eine von vielen Anspielungen auf das Kino Zhang Yimous, mit denen Wang Xioshuai in Beijing Bicycle kokettiert. Die Bezüge reichen noch weiter, als es diesem Vertreter der sechsten Generation des chinesischen Kinos (die ja vielerlei Anstalten macht, um sich von der fünften zu emanzipieren) lieb sein mag. Die Geduld und Starrköpfigkeit seines Helden erinnert unweigerlich an Zhangs unbeirrbare Heroinen. Und in seinem Vertrauen auf eine einfache Fabel und eine berückende Konkretion - man erinnere sich nur an die streng abgezählten Kreidestücke in Keiner weniger oder den ehrfurchtsvollen Transport des Sarges in The Road Home (Heimweg) -, knüpft er ebenso direkt wie Zhang an die Tradition des italienischen Neorealismus an, die aus der Armut einen Reichtum der erzählerischen Möglichkeiten schöpfte. Vielleicht herrscht momentan nur im chinesischen und im iranischen Kino eine solche Evidenz und Vieldeutigkeit der Requisiten. Das umstrittene Mountainbike ist für Guei eine Überlebensnotwendigkeit und zugleich Beweis einer auch sozialen Mobilität. Für Jian ist dies Statussymbol das Indiz einer Kränkung, der enttäuschten Versprechungen seines Vaters. Das Rad bindet Sehnsüchte und Lebensträume auf eine Weise, wie es die Requisiten im westlichen Kino seit der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht mehr konnten. Vittorio de Sicas Fahrraddiebe ist ein offensichtlicher Referenzfilm für Wang. Aber auch Akira Kurosawas Ein streunender Hund, wo Toshiro Mifune als Polizist im Nachkriegs-Tokio verzweifelt nach seiner gestohlenen Dienstwaffe fahndet, verdankt er sein Gespür für Gewicht und Fallhöhe alltäglicher Situationen. Im Gegensatz zu de Sica und Kurosawa beweist Wang wenig Geduld, eine solch aussichtslose Suche akribisch nachzuvollziehen - und zeigt überdies wenig Lust, ihren erfolgreichen Ausgang anders als zufällig zu begründen (wobei er sich indes einer vagen sozialen und topographischen Ordnung anvertraut: die beiden Widersacher leben anscheinend in der gleichen ärmlichen Nachbarschaft). Die Bedeutung des Gefährts im chinesischen Alltag will Wang nicht erst explizit beschwören, er nimmt sie als etwas Gegebenes, deutet beispielsweise nur beiläufig an, welch unglaubliche Lastentransporte dort mit dem Rad bewältigt werden. Überhaupt schöpft er dessen Erzählmöglichkeiten im Großstadtverkehr überraschend zurückhaltend aus. Er thematisiert zwar nachdrücklich die soziale Differenz zwischen Land und Stadt, aber macht sich keineswegs nur die Perspektive des Jungen vom Lande zu Eigen. Das Wechselspiel von Synchronität und Gegenläufigkeit, das Verhältnis des Einzelnen und der Masse erfüllt ihn mit sanftem Staunen, aber nicht mit dem Gefühl von Fremdheit. Wie jeder anständige Großstadtfilm handelt Beijing Bicycle von der Gleichzeitigkeit der Gegensätze. Die Perspektive des Fahrradsattels ermöglicht es ihm, pittoreske und mitunter verstörende Streiflichter auf eine sich geisterhaft schnell wandelnde Metropole zu werfen. Die Kamera ist auf stetiger Suchfahrt, sie kontrastiert die neu errichteten, hochfahrenden Häuserfassaden mit dem vertrauten, verschwindenden Antlitz der Stadt: den Hutongs, jenen grauen, idyllisch verwinkelten Altstadtvierteln, in denen sich das Leben noch auf engen Gassen und hinter den verschwiegenen Mauern der Höfe zuträgt. Im Geschwindigkeitsrausch geht Wang der Blick für den Hintergrund nie verloren, seine Kamera wählt meist eine distanzierte, raumgreifende Perspektive. Dabei zerstreut die urbane Wahrnehmungsfülle diesen Blick nie wirklich: er bleibt konzentriert auf seine Hauptfiguren und deren Parcours. Zunächst führt er sie auch visuell als Pole gegeneinander. Während sich Guei in der lichten Offenheit der Straßen bewegt, taucht der Kameramann Liu Jie dessen Widerpart Jian und seine Freunde anfangs ins Zwielicht: sie sind als verschworene Silhouetten in einem verlassenen Parkhaus zu sehen, wo sie sich die Freizeit auf ihren Rädern vertreiben. Es ist hübsch, wie Wang die Empörung und das Rechtsempfinden des Zuschauers in der Folge auf die Probe stellt. Er setzt beide Hauptfiguren in ihr Recht, schürt sogar kurz die Hoffnung auf eine freundschaftliche Annäherung. Denn Jian ist keineswegs ein Dieb, sondern darf sich als Eigentümer fühlen, weil er das Rad auf dem Flohmarkt für viel Geld erworben hat. Aus diesem zweifachen Anrecht bezieht diese sanft moralische Erzählung über falsche Werte ihre tragikomische Spannung. In die malerisch sonnenüberfluteten Tableaus hat Wang, womöglich unbewusst, noch einen doppelten Boden eingebaut: Sie erliegen der Tücke des verführerischen Scheins.