Täuschung und Wahrheit Die Dokumentation "Das Jahrhundert des Theaters" will die Schauspielgeschichte des 20. Jahrhunderts in der Wechselwirkung mit der politischen Geschichte begreifen
Längst ist der Theaterdonner wieder verhallt, aber für einen kurzen Moment brachte der saarländische Ministerpräsident Peter Müller den Gegensatz von Sein und Schein wieder so ins Gerede, wie man es im postmodernen Medienzeitalter mit seinen virtuellen Welten kaum mehr für möglich gehalten hätte. Als er sich und seine Parteikollegen als Laiendarsteller im Drama um das neue Zuwanderungsgesetz outete, versuchte er zwar zugleich geschickt, die inszenierte Empörung gegen den Vorwurf der "Unehrlichkeit" zu verteidigen, der jedem "Theater" stets anhaftet, wo es nicht auf den eigentlichen, dazu vorgesehenen Bühnen stattfindet, konnte aber mit seiner Argumentationslinie des "legitimen Theaters" (die Empörung sei gespielt, aber trotzdem echt ge
gewesen, nur eben nicht zum selben Zeitpunkt) nur wenig überzeugen. Obwohl es nämlich täglich und überall stattfindet, gilt das Inszenieren von Politik als verpönt. Sie nicht mehr von Schauspielerei unterscheiden zu können, ist der Alptraum jeder Demokratie. Weshalb das darstellerische Gewerbe den reichsten Fundus für Politikerschelte bereithält - vom Schmierenkomödiant über die Marionette bis zum Kulissenschieber. Im Politikfeld, das wurde in der Debatte um den "Eklat im Bundesrat" einmal mehr deutlich, darf Ehrlichkeit nicht relativiert werden. Müller hatte mit seiner Art der Ehrlichkeit keinen Erfolg, weil es eben genau das nicht gibt: ein "legitimes" Theater, das sich gleichzeitig auf seinen Spiel- und auf seinen Realitätscharakter berufen kann. Denn Theater hört da auf, wo Ehrlichkeit, will heißen die Realität beginnt. Den Modus des "Als ob" lernen Theaterwissenschaftsstudenten als eine Grunddefinition des Theaters. Anders gesagt: Theater ist immer illegitim.Bei Brecht gibt es diese schöne Szene: Ein aufstrebender Politiker nimmt Unterricht bei einem Schauspieler; es ist die Hitler-Karikatur Arturo Ui. Heiner Müller hat Brechts Stück Mitte der Neunziger mit Martin Wuttke in der Titelrolle noch einmal inszeniert. Den Part des erfahrenen Schauspielers teilten sich Bernhard Minetti und Marianne Hoppe. Der aufstrebende, aber unbeholfene Politiker/Gangster lernt also die elementaren Schauspieltechniken: deklamatorisches Sprechen, effektvolles Heben und Senken der Arme, fester Stand und Bühnenpräsenz. Der Zuschauer lernt, wie Authentizität zur Frage des gewählten Tonfalls wird und Überzeugungskraft aus einer Körperhaltung resultiert. Ehrlichkeit ist machbar, man muss sie nur gut genug darstellen können.Die Szene hat simplen Allgemeinplatz-Charakter mit großem komödiantischen Potential. In der erwähnten Inszenierung von Heiner Müller bekam sie etwas Gespenstisches, weil Minetti beziehungsweise Hoppe ihr Handwerk gelernt haben, als das reale Vorbild des Arturo Ui unaufhaltsam aufstieg - wer etwa die deutschen Filme aus den dreißiger Jahren oft genug geschaut hat, weiß, dass es ihn gab, den "Reichstheaterstil". Was Minetti/Hoppe dem Ui-Darsteller Wuttke gewollt nachlässig und schlecht gelaunt vormachten, erschien plötzlich auf unheimliche Weise authentisch, es war, als holte die Geschichte das Theater ein.Das Jahrhundert des Theaters nennt Peter von Becker seine sechsstündige Fernsehdokumentation zur Geschichte des Theaters im 20. Jahrhundert, in der auch die geschilderte Szene zu sehen ist. Bei Peter von Becker illustriert die Aufnahme aus den neunziger Jahren das Theater "zwischen den Diktaturen", womit bereits ein Problem dieses umfassenden Geschichtsunterrichts deutlich wird: Wo es keine zeitgenössischen filmischen Dokumente gibt, behilft man sich mit neueren Aufnahmen. Der Blick für die Entwicklung der Theaterformen wird so zwangsläufig unscharf und wie das Theater selbst Geschichte reflektiert, erst gar nicht sichtbar.Der unscharfe Blick ist in von Beckers Dokumentation gewissermaßen Programm - wie im Titel angekündigt, erfolgt der Focus auf die Theatergeschichte über den Umweg der Geschichte des Jahrhunderts. Die Umkehrung im Titel steht für das Maß der Durchdringung von Geschichte Theater in den letzten hundert Jahren. Anhand vieler großer Namen - von Max Reinhardt bis Samuel Beckett, von Wsewolod Meyerhold bis Peter Stein - wird die Ära als das große Zeitalter einer heute doch eher marginalen Kunstgattung beschworen. Als besonderes Merkmal der Ära tritt hervor, dass die Theatralisierung von Politik Hochkonjunktur hatte. Ob Stalin, Mussolini oder Hitler, alle waren sie gewissermaßen auch Pioniere des Freiluft- und Straßentheaters. "Das hatten sie von Max Reinhardts Theater," summiert Theaterhistoriker Günther Rühle an einer Stelle. Doch was bei ihm noch eine wohlüberlegte Beobachtung ist, gerät der Dokumentation zum Dauerton: Wo immer sich Politik und Theater treffen, ist es bedeutsam. Im Nationaltheater Weimar wurde die Republik gegründet, nach der Unterzeichnung des Ribbentropp-Stalin-Paktes ging man in die Oper, Wagner, was sonst, inszeniert von Eisenstein. "Hitler ist besiegt, aber der Broadway noch nicht erobert", heißt er über die Gemütsverfassung Bertolt Brechts an einer Stelle und immer wenn von Russland die Rede ist, ertönt im Hintergrund Chatschaturjans Säbeltanz.Das Fernsehen ist mittlerweile zum wichtigsten Medium des außerschulischen Geschichtsunterrichts geworden. An viele Eigentümlichkeiten von Dokumentationsserien hat man sich deshalb so gewöhnt, dass man sie kaum noch wahrnimmt, wie an das ständige Einzoomen auf altertümliche Schwarz-Weiß-Bilder, an die stottrigen Aufnahmen der ersten Filmkameras, an die knapp gehaltenen Satzbeiträge von Zeitzeugen und Experten und last not least an die schnurrende Stimme von Otto Sander. Theaterdokumentationen haben allerdings mit einer besonderen Schwierigkeit zu kämpfen: Das Theater rühmt sich, die flüchtigste aller Künste zu sein, die nichts hinterlässt außer vielleicht ein paar gestellte Photos, wenige Kostüme und eine Erinnerung in den Köpfen und Herzen der Zuschauer. Das führt dazu, dass man in den Serienteilen, die die Geschichte des Theaters der ersten Jahrhunderthälfte behandeln, mehr Filmausschnitte als Theater sieht: Kuhle Wampe, Die Büchse der Pandora, Professor Unrat, und was der Titel mehr sind, in denen die Theaterstars von damals auftraten. Der Zwang zum Beleg durch bewegte Bilder verwischt die mediale Konkurrenz, die es in der Zeit zwischen den Gattungen gab.Das Bewegendste an der Serie ist denn auch das Material, das größtenteils aus den hauseigenen Archiven des Fernsehens selbst kommt: Gespräche mit längst oder auch erst kürzlich verstorbenen Theaterkritikern und -machern, aufgenommen in Jahren, als den Befragten noch Zeit gelassen wurde für vorbereitete und ausführliche Antworten. Gerade in diesen Begegnungen mit heute Vermissten wird deutlich, dass die Autoren der Serie auch eine Chance verpasst haben, indem sie das Theater durch den Spiegel der Jahrhundertgeschichte und nicht umgekehrt betrachteten. So tauchen die Diktatoren als großspurige, aber schlechte Theatermacher auf, während die "eigentlichen" Künstler wie Gustaf Gründgens und Heinz Hilpert ihre Bühnen frei von Nazi-Propaganda hielten und reine Kunst machten - die Pole von Täuschung und Wahrheit, um die es sich im Spannungsfeld von Politik und Theater immer dreht, werden hier also einfach umgekehrt. Was Brecht damit gemeint haben könnte, als er bei seiner Rückkehr nach Berlin feststellte, dass nicht nur die -gebäude, sondern auch die Theaterkunst in Trümmern läge, wird in der Dokumentation kaum verständlich.Das Jahrhundert des Theaters, Folge 2-6, jeweils Sonntags, 20.15 Uhr in 3sat. Nächsten Sonntag: Spiele der Diktaturen. Theater zwischen 1933 und 1945.
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