Von den Tücken der Lifttechnik Es widerspricht der Idee "Aufzug", aber bei uns im Haus führen erst einmal zwölf Treppenstufen zum Fahrstuhl hinauf. Munter springen die Milchtüten ...
Es widerspricht der Idee "Aufzug", aber bei uns im Haus führen erst einmal zwölf Treppenstufen zum Fahrstuhl hinauf. Munter springen die Milchtüten und Babygläschen auf und ab, wenn ich mit dem Kinderwagen hochrumpele. Das Baby ist daran gewöhnt und schläft.
Der Kinderwagen passt nur diagonal in die Kabine. Dann heißt es Bauch einziehen und sich auf Zehenspitzen in die Ecke drücken. Die Tür schließt mit einem metallischen Wummern. Im gleichen Augenblick ruckt der Aufzug in die Höhe. "Hektisch" oder "Knall ins All" könnte das Fahrstuhlmodell heißen.
Heute ist die Fahrt allerdings ruckartig wieder beendet. Ein zitterndes Nachbeben geht noch durch die Kabine, dann verharren wir regungslos zwischen den Stockwerken. Ich drücke
Ich drücke den Tür-auf-Knopf. Nichts. Ich versuche die schwere Metalltür zur Seite zu schieben. Sie will nicht. Mit aller Kraft gelingt es: Durch das drahtverstärkte Glas der Außentür kann ich das Fenster im zweiten Stock erkennen. Wir hängen also noch ziemlich weit unten im Schacht.Die Tür gleitet mir aus den Händen und bollert zu. Das Baby wacht auf. Ängstlich schaut es sich um und schnuppert. Es sind nicht etwa hängen gebliebene Gerüche anderer Fahrgäste, die einen hier belästigen. Es ist der Aufzug selbst. Die Kabine, ausgekleidet mit düsterem Plastik-Holzimitat, müffelt nach altem PVC und rostig-feuchten Drähten. 1973 steht auf einem grünen Aufkleber.Das Baby läuft rot an und beginnt zu schreien. Ich nehme es auf dem Arm. Als würde es verfolgt, wirft es ängstlich den Kopf hin und her und sieht sich um. Ich wähle andere Stockwerke an. Nichts. Mit der flachen Hand drücke ich jetzt alle Stockwerke gleichzeitig. Alle Tasten leuchten. Alle, bis auf die handgemalte Taste aus Papier, die ein Spaßvogel hier angebracht hat und auf der ein imaginäres sechstes Stockwerk angekündigt wird.Dass es keine Notrufvorrichtung gibt, kam mir immer schon seltsam vor. Für den Notfall ("und nur für den Notfall!") ist der "Signaltonauslöser" da. Wohl wissend, dass mich niemand hört, löse ich die schrille Dauerhupe aus. Es ist sinnlos: Der alte Herr unter uns ist taub. Die nächste Partei arbeitet. Die Frau aus dem zweiten Stock ist vor ein paar Wochen gestorben und der Vermieter aus dem Erdgeschoss nie da. Der Signalton verebbt. Das Baby brüllt weiter."Plötzlich und unerwartet" - wie wohl unsere Todesanzeigen formuliert sein werden?, denke ich melodramatisch. Uns Zugezogene kennt sowieso niemand. Möglicherweise erhalten wir nicht einmal eine Todesanzeige. Dabei lese ich die gern. Vor kurzem ist mir noch aufgefallen, dass Neugeborene heute wieder die gleichen Vornamen tragen wie Verstorbene: Theresia, Anna, Elisabeth, Greta und Paul sind von uns gegangen und gleichzeitig frisch auf die Welt gekommen. Vor zehn Jahren war das anders: Damals hießen die Babys Kevin, Jennifer, Nadine und Jasmin.Das Akku meines Handys ist leer. Dennoch krame ich das Gerät zwischen den Einkäufen hervor. Fein, es lässt sich noch anschalten. Doch das Display meldet "Netzsuche". Keine Verbindung. Erst als ich mich vollends verrenke und das Ding in die rechte obere Ecke des Fahrstuhls halte, baut sich eine Verbindung auf. Rasch wähle ich Tim an. "Herzlich willkommen bei O2", flötet seine Mailbox. "Hilfe, ich bin im Aufzug steckengeblieben", teile ich dem Band mit. Dann schaltet sich das Handy aus. Immerhin habe ich bei meinen Verrenkungen auch den kleinen Firmenaufkleber des Aufzugherstellers entdeckt. "Kuon". Kuon? Heißt das nicht Pferd?Das Baby plärrt. Schweiß rinnt mir die Stirn herunter. Tim ist auf Dienstreise im Ausland. Es wartet also niemand auf uns. Niemand wird sich Sorgen machen, wo wir so lange bleiben. NIEMAND. Nochmals schalte ich das Handy an. Als wider Erwarten ein Netz zustande kommt, wähle ich rasch die Auskunft und lasse mich mit Kuon verbinden. "Hilfe, ich stecke in einem Ihrer Aufzüge fest", teile ich der Dame mit. Sie fragt nach der Adresse und der Aufzugnummer. Eine Nummer gebe es nicht, sage ich. "Es tut mir Leid, aber in diesem Fall hat Ihre Hausverwaltung mit uns keinen Wartungsvertrag abgeschlossen ..." Das Handy schaltet sich aus."Guck doch mal von außen auf deine Situation", versuche ich mich zu beruhigen. Im Aufzug stecken geblieben neigt man zu Depressionen, zum Tunnelblick. Dabei geht es doch gerade jetzt darum, an die vielen Situationen zu denken, in denen alles gut gegangen ist. Ich öffne ein Gläschen Karotten und lasse das Baby am Glasrand nippen. Mit ungestümer Handbewegung schleudert das Kleine das Glas gegen die Aufzugwand. Das Plexiglas-Schild, das behauptet, in dieser Kabine hätten fünf Personen oder 375 Kilo Platz, ist mit Möhrenbrei bekleckert. Langsam rinnt die orangefarbene Masse über die Schrift. Auch meine Jacke ist karottenverschmiert.Das Baby brüllt noch immer. Keine Ahnung, wie lange wir schon warten. Tränen kullern. Angestrengt versuche ich das Kind zu beruhigen. Vielleicht hat Tim ja seine Mailbox abgehört. Vielleicht sogar die Feuerwehr angerufen und vielleicht kommt die ganz schnell angefahren. Vielleicht sogar mit Martinshorn und Blaulicht. Fürs Baby singe ich: "Ich bin ein kleiner Pinguin und heiße August Fridolin. Widiwatsch. Und willst du mich mal seh´n so froh, dann komm doch wieder in den Zoo. Widiwatsch." Eigentlich ist das Lied gar nicht froh, sondern wie fast alle Kinderlieder irgendwie traurig. Pommernland ist abgebrannt, kleine Enten sind allein in großen Städten und Pinguine nur im Zoo froh. Nie in freier Wildbahn, sondern immer nur eingesperrt.Ich greife nochmals zum Handy. Wenn die Verbindung zustande kommt, werde ich ganz schnell die Feuerwehr rufen. Was ist das? Ich höre ein Martinshorn. "Sie holen uns raus. Hurra!" Vielleicht ist nur jemand gestorben und sie kommen gar nicht wegen uns, argwöhne ich. Ich löse nochmals das Signal aus. In das Dauerhupen hinein mischt sich das Geräusch der aufspringenden Haustür. "Moment noch", höre ich plötzlich jemanden rufen. Und schon wird ein Brecheisen an der Lifttür angesetzt. "Jetzt geht das Licht aus", raunt mir der Feuerwehrmann zu. Es wird dunkel, wieder hell. Der Mann kommt zurück, stemmt neuerlich die Tür auf, lässt sie zuwummern, dann fährt der Aufzug wieder. "Schade, dass das Baby noch nicht im Feuerwehrmänner-Bewunderungsalter ist", sage ich zum Feuerwehrmann. Sonst hätte wenigstens der Kleine heute einen großen Tag gehabt.*Mit der Technik sicher leben 2002", verheißt ein TÜV-Aufkleber in der Kabine, als wir das zweite Mal stecken bleiben. Der Aufzug ist inzwischen modernisiert. Eine Weile meide ich ihn trotzdem. Doch dann - das Baby schläft gerade so schön - steige ich wieder zu."Mit der Technik sicher leben". Dass ich nicht lache, frohlockt mein innerer Schweinehund, als wir wieder im Schacht hängen. Seit der Renovierung des Aufzugs gibt es einen Notruf, versuche ich mich zu beschwichtigen. "Dieser Aufzug ist an ein Fernüberwachungssystem angeschlossen", steht auf dem Hinweisschild. "Nach Betätigung des Notrufrasters wird mit der Kuon Bereitschaftszentrale eine Sprechverbindung hergestellt. Sollte die Verbindung nicht zustandekommen, betätigen Sie bitte nochmals den Notruftaster."Ich drücke den Taster und warte. Nichts. Taster!, schnaube ich. Was für ein Wort? Und wird zustande kommen jetzt wirklich zusammengeschrieben? Sollte diese Firma nicht einmal zustande kommen richtig schreiben können, was könnte man dann noch Gutes von ihr erwarten? Ich drücke den Taster ein zweites Mal. Eine metallische Stimme ertönt: "Nach Beendigung dieser Durchsage geben Sie bitte Ihren genauen Standort an. Vielen Dank." Ich gebe unsere Adresse durch und warte. Als nichts passiert, drücke ich nochmals. Wieder kommt die Automatenstimme mit ihrer Durchsage daher. "Hilfe", sage ich und drücke die Taste nochmals, nochmals und nochmals. Die Stimme sagt: "Bitte betätigen Sie den Notruftaster jetzt nicht mehr. Der Mechaniker ist unterwegs. Er wird in Kürze bei Ihnen sein. Vielen Dank." Ich fühle mich vor den Kopf gestoßen. Hätte mich gern ein bisschen ausgetauscht über meine Situation. Wie es einem so geht im Schwitzkasten der Technik. Aber was gibt es da auch schon groß zu sagen? Im Aufzug eingesperrt sind wahrscheinlich alle Menschen gleich. Sitzen, schwitzen, hoffen. Wer will sowas schon mitanhören? Müsste die Notrufbesetzung der Aufzugfirma täglich diese Geschichten von Angst, Stillstand, Enge und Langeweile hören, würde sie wohl nach zwei Wochen kündigen. Zu wenig Dynamik.Das Baby schläft. Ärgerlich, dass ich mein Handy nicht dabei habe. Andererseits wäre es auch seltsam, jetzt zu telefonieren. "Was machst du gerade?" "Ich stecke im Aufzug fest". "Was?" "Keine Sorge, passiert mir ständig." Zu lesen habe ich auch nichts. Tausend Mal schon habe ich mir vorgenommen, nie mehr ohne ein Buch auszugehen. Wieso steht da eigentlich: "Mit DER Technik sicher leben"? Wieso nicht "Mit Technik sicher leben"? "Mit Technik sich erleben", könnte es auch heißen.Sicher leben. Mein Baby ist erst neun Monate alt und schon zwei Mal im Aufzug hängen geblieben. Ich bin 37 und steckte, bevor das Baby kam, nie im Lift fest. Wieso eigentlich nicht? Wahrscheinlich mangels Gelegenheit: Anders als das Kleine bin ich auf dem platten Land ohne Hochhäuser und Aufzüge groß geworden. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich lieber Treppen steige, statt Aufzug zu fahren. In New York habe ich sogar einmal einen Kaufhaus-Alarm ausgelöst, weil ich statt des Lifts die Treppe genommen habe. Dass jemand mehrere Stockwerke zu Fuß überwindet, war so ungewöhnlich, dass die Alarmanlage anschlug. Als würde es brennen. "Sie hatten Glück, dass kein Wasser aus der Decke sprühte", sagte der Sicherheits-Officer hinterher zu mir. Ich gucke an die Fahrstuhldecke und bemerke, dass in der Abdeckung der Neonleuchte tote Fliegen liegen. "Mit der Technik sicher leben"."Hallo, hören Sie mich?", fragt mich kurz darauf der Techniker. Ich höre. Das Licht geht aus, wieder an, die Tür wummert auf und wieder zu. Ich kenne es schon, das Spiel. Gleich fahren wir wieder. "Vielen herzlichen Dank", sage ich, als wir die Kabine verlassen. Hab ja schon Routine.
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