In der Sesamstraße - überhaupt ein großer Quell an grundlegender philosophischer Weisheit - gab es einst einen Sketch zu sehen, in dem ein König ein großes Fest plante und seinem Volk völlig freie Hand ließ, wie sie es gestalten wollten. Ein jeder Bürger dachte sich nun, dass Wassermelonen sehr gut schmecken, und brachte diese mit zum Fest. Die Wiesen vor dem Schloss waren überflutet mit Wassermelonen. Alle waren unzufrieden. Der König erklärte warum. Es reicht nicht, nur Wassermelonen zu haben. Für ein Fest braucht man auch Wein. Und ein jeder Bürger verstand, nahm seine Wassermelonen wieder mit nach Hause und brachte ein Fass Wein zum Schloss. Die Unzufriedenheit hielt an. So ging es noch ein paar Mal hin und her. Erst als
Das Individuum stärkt das Kollektiv
Vielfalt oder Gleichschaltung In der Diskussion um den "digitalen Maoismus" zeigt sich das wirklich utopische Potenzial des Internets
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ls der König anfing, das Fest zu organisieren, den einen beauftragte Wassermelonen zu bringen, den anderen für das Bier zu sorgen, und den dritten um Brot zu bitten, waren alle zufrieden.Paul Boutin hat vor einiger Zeit über eine solche "Bring-dein-eigenes-Zeug-mit-Party" geschrieben, sie findet allerdings nicht mehr in vormodernen Schlossanlagen statt, sondern im World Wide Web. So zumindest empfindet er das, was als Web 2.0 zum Lieblingsthema auch der traditionellen Medien geworden ist. Kaum eine Feuilletonseite vergeht - diese eingeschlossen -, auf der nicht auf die Hunderttausenden von Amateurvideos auf YouTube hingewiesen wird, auf die sich permanent verbessernden Artikel der Wikipedia oder auf den neuesten Skandal, der durch ständig wachsame Blogger aufgedeckt worden ist. Das Fazit ist dann oft, dass es die Medien, wie wir sie kennen, immer schwerer haben werden, angesichts dieser "Weisheit der Vielen", wie ein aktueller Bestseller zu diesem Thema von James Surowiecki betitelt ist.Trotz aller Beschreibungen und Berichte von tatsächlich Vorhandenem, sprechen die Texte immer noch von einem bevorstehenden Wandel, von einer Zukunft, die ganz anders aussehen wird. Im dokumentarischen Gestus versteckt sich also immer noch eine Utopie. Genau die Utopie, die Bertolt Brecht und Hans Magnus Enzensberger Anfang der dreißiger beziehungsweise siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts umtrieb. Brecht plädierte in einem Vortrag dafür, den "Rundfunk [...] aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln", Enzensberger meinte angesichts der Videotechnik erkannt zu haben, dass "die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten Prozess möglich" machten, "dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden". Dreißig Jahre lang war es dann angesichts der ernüchternden Realität von CB-Funk und Heimvideofilmen ruhig, bis nun mit dem World Wide Web und seinen neuen Portalen die Imagination wieder angestachelt wurde.Aber wie bei jeder flächendeckenden Unterwerfung gibt es auch hier das kleine Dorf, das nicht aufhört, den Eindringlingen Widerstand zu leisten. In diesem Fall ist das Dorf ein einzelner Mensch. Er heißt Jaron Lanier und hat im Mai 2006 einen Essay geschrieben, in dem er diese Utopie als "digitalen Maoismus" geißelte. Diese "Wiederauferstehung der Idee, dass das Kollektiv unfehlbar" sei und dass man es nur zu kanalisieren braucht, damit es seine volle Weisheit und Kraft entfalte, brandmarkt er als Neo-Totalitarismus. "Diese Idee hatte bereits furchtbare Konsequenzen, als sie uns von extremer rechter oder linker Seite in der Geschichte aufgedrückt wurde. Die Tatsache, dass sie jetzt von prominenten Technologen und Zukunftsforschern wieder eingeführt wird, Menschen, die ich kenne und schätze, macht sie nicht weniger gefährlich." So lauten die meistzitierten Passagen dieses Textes.Es entbehrt nicht einiger Ironie, dass ausgerechnet Lanier diese Kritik übt. Als Erfinder des Begriffs "Virtuelle Realität" und als einer der eifrigsten Propheten der neuen digitalen Welten hätte man dergleichen nicht erwartet. Entsprechend heftig fielen die Reaktionen auf seinen Essay in der Gemeinschaft der Computerintelligentsia aus. Es gab Zustimmung von der falschen Seite - Kulturpessimisten, denen schon immer klar war, dass Computer eine falsche Entwicklung sind - und es gab Ablehnung von der richtigen Seite - Digitalpropheten wie Lanier, die ihm Nestbeschmutzung und Sägen am eigenen Ast vorwarfen.In der sehr verengten Sichtweise auf den Essay muss das Netz als die Verkörperung aller Computer- und Roboterdystopien der Science-Fiction-Geschichte erscheinen. Das Internet beginnt, den Menschen zu unterwerfen und alle gleichzuschalten. Schaut man genauer hin, geht es Lanier aber überhaupt nicht darum, die Technik zu verdammen, sondern nur die Art und Weise, wie man sie beurteilt und einsetzt. Es geht ihm um das Verhältnis von Individuum und Kollektiv, nicht um die Abschaffung des einen oder des anderen. "Das Schöne am Netz ist, dass es Menschen verbindet", sagt Lanier. "Die anderen Menschen stellen den Wert dar. Wenn wir anfangen zu glauben, dass das Internet selbst etwas zu sagen hätte, dann entwerten wir diese Menschen und machen uns selbst zu Idioten."Liest man Texte über YouTube, Wikipedia und den ganzen Rest des Web 2.0, dann kann man tatsächlich den Eindruck bekommen, das Netz hätte etwas zu sagen und nicht die Videomacher und Artikelschreiber in ihm. Nicht Judson Laipplys Evolution of a Dance - seit Monaten das populärste Video auf You Tube - ist Gegenstand der Berichterstattung, sondern die Zahlen der Marktforschungsagentur Nielsen, denen zufolge das Portal im Juni 2006 31 Millionen Besucher zählte und damit auf Platz 17 der weltweit erfolgreichsten Internetseiten liegt. Von dieser Zahl allein wird die Relevanz von YouTube abgelesen und nicht von dem, was dort präsentiert wird.Das Problem ist nicht, dass es so viele verschiedene Angebote im Netz gibt, von denen viele so schlecht sind und nur manche brillant. Im Gegenteil. Das Problem ist, dass man die Statistik dieses Angebots für das Angebot hält. Es ist fantastisch, dass nun theoretisch jeder die Möglichkeit hat, seine Sachen zu veröffentlichen. Nur dumm, dass die allermeisten eben nur fähig sind, diese Möglichkeit zu artikulieren und sonst nichts zu sagen haben. Die riesige Blogosphäre, von der man sich so einschneidende Veränderungen für den Journalismus erhofft, besteht zu 98 Prozent aus Bloggern, die darüber schreiben, dass sie nun auch einen Blog haben und mal sehen wollen, wie sich das so entwickelt, die dann darüber schreiben, was sie in anderen Blogs gelesen haben, um nach einer Entschuldigung, dass sie solange nichts geschrieben haben, schließlich gänzlich verstummen. Konzentriert man sich bei seiner Utopie auf diese Masse und ruft die Graswurzelrevolution des Web 2.0 aus, dann wird man in zwei Jahren unweigerlich zu denen gehören, die tief enttäuscht zynische Kommentare über das Platzen schon wieder einer Blase schreiben werden.Viel interessanter ist es, sich auf die zwei Prozent im Netz zu konzentrieren, die tatsächlich etwas völlig Neues und Großartiges darstellen. Die früher niemals eine Chance gehabt hätten. Man unterstellt klassischen Massenmedien gerne, dass sie nur bestimmte Inhalte zulassen und andere unterdrücken. Das stimmt auch, nur hat das in den allerwenigsten Fällen ideologische Gründe. Sie sind vielmehr von einem einzigen Faktor abhängig: materielle Verbreitung. Eine Zeitung muss sich dort verkaufen, wo sie ausgelegt werden kann, CDs müssen sich in einem bestimmten Laden mehrfach verkaufen, damit es sich für diesen Laden lohnt, sie zu führen, ein Kino braucht eine bestimmte Zuschauermenge in seiner Stadt, um sich einen Film leisten zu können. "Es reicht nicht, dass ein großartiger Dokumentarfilm potenziell eine halbe Million Zuschauer interessiert", erklärt Chris Anderson in seinem Blog The Long Tail, "was zählt ist, wie viele potenzielle Zuschauer er im nördlichen Teil von Rockville, Maryland, und unter den Mall-Besuchern in Walnut Creek, Kalifornien hat." Was von den klassischen Medien berichtet und verbreitet wird, ist dieser "Tyrannei des Physikalischen" geschuldet, wie es Anderson ausdrückt. Es lohnt sich nur das, was die Mehrheit einer bestimmten Gruppe an einem bestimmten Ort interessiert, und das kann nicht mehr als der kleinste gemeinsame Nenner sein: das, was schon erfolgreich war und mit dem deshalb die meisten etwas anfangen können.Bei der Verbreitung über das Internet ist es nun aber völlig egal, wo der potenzielle Zuschauer oder Leser sitzt. Es ist im Wortsinne eine Utopie - ein "Nicht-Ort" - oder besser, ein Universum, ein "In Eins Gekehrtes". Das geografisch überall verstreute Publikum findet im World Wide Web alles, was es interessiert. Die zwanzig Einweckgläsersammler dieser Welt können sich regelmäßig austauschen, die fünfhundert Aktiven im Handyweitwurf können die internationalen Wettkämpfe in ihrem Sport koordinieren, und die eine Million Computerspielfilm-Interessierten in allen Ländern können die Filme ihrer Wahl sehen und einige davon zu Blockbustern machen. Das sind die Kollektive und die Massen, die am Internet interessant sind, nicht die Masse des kollektiven Durchschnitts, die in den Artikeln über Web 2.0 auftaucht."Das Kollektiv zu stärken, stärkt in keiner Weise die Individuen - andersherum schon. Es kann sehr nützliche Rückkopplungsschleifen zwischen Individuen und dem kollektiven Geist geben, aber der kollektive Geist ist zu chaotisch, um mit sich selbst kurzgeschlossen zu werden." Das ist die zentrale These von Laniers Essay. Sein Text stellt keine Kritik am Internet dar, sondern er ist ein Aufruf dazu, sich endlich mit dem zu beschäftigen, was in ihm passiert. Und dem Beispiel des idealistisch überzeichneten Königs im Sesamstraßen-Sketch zu folgen, der auf den einzelnen Bürger und seine Möglichkeiten hinwies und dadurch Vielfalt erzeugte.
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